Herr Dr. Schuster, wie blicken Sie aus jüdischer Sicht auf die ersten Monate der schwarz-roten Bundesregierung?
Ich habe den Eindruck, dass es zunächst Anlaufschwierigkeiten bei den beiden Parteien gab und die Koalitionspartner erst einmal zusammenfinden mussten, bin aber insgesamt – trotz der verschobenen Richterwahl – optimistisch.
Wadephuls Aussage war eine Entgleisung. Nach dem Außenminister-Treffen Österreichs, Deutschlands und Israels in Wien habe ich das Gefühl, dass die Tonlage inzwischen wieder eine andere geworden ist.
Genau, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird, ist die Grenze einer ganz legitimen Kritik eindeutig überschritten. Und wenn Vergleiche gezogen werden wie in einem Bericht vor Kurzem, als Gaza mit Srebrenica verglichen wurde, dann ist das absurd und man muss ein nicht vorhandenes Wohlwollen unterstellen, um es zurückhaltend auszudrücken.
Insgesamt müssen wir als Gesellschaft auf Social Media stärker dagegenhalten, insbesondere wenn ich erlebe, was gerade die rechtsextreme Seite an Möglichkeiten nutzt. Von politischer Seite müssen Plattformen für ihre Algorithmen verantwortlich gemacht werden. Klar ist, die Aufgabe des Kampfes gegen Antisemitismus kann nicht primär als eine Aufgabe der Juden selbst verstanden werden, sondern ist eine Aufgabe des Gesamtgesellschaft.
Und bemüht sich die Gesamtgesellschaft ausreichend darum?
Ein Punkt in der Bildungsarbeit ist die rechtzeitige Behandlung des Themas, also nicht erst in der fünften Klasse, sondern altersgemäß schon in der frühkindlichen Erziehung im Kindergarten.
Die letzten Zeitzeugen des Holocausts sterben aus. Welche Möglichkeiten, die Erinnerungen zu vergegenwärtigen, halten Sie für sinnvoll?
Zum Glück hat man die Zeitzeugen rechtzeitig in Bild und Ton aufgenommen, sodass man ihre authentischen Berichte weiter sehen und hören kann. Außerdem gibt es die sogenannten Zweitzeugen. Das sind Menschen der nächsten Generation, die von ihren Eltern oder von der direkten Zeitzeugengeneration Entsprechendes gehört haben und in der Lage sind, es an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Neben den drei Antisemitismen im rechtsextremen und linksextremen sowie muslimischen Milieu ist derlei Gedankengut längst in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
Die Antisemiten der extremen Rechten und Linken treffen sich wie in einem Hufeisen in der Mitte wieder. Wir sehen das aktuell bei den Gesprächen zwischen BSW und AfD. Und der linksextremistische Antisemitismus hat wiederum enge Beziehungen zu muslimischem Antisemitismus, der auch von dieser Seite unterstützt wird. Insofern gibt es eine breite Front, die in die politisch neutrale, demokratische Mitte reicht.
Viele Gerichte, Sie wissen es, halten selbst weitgehende antisemitische Äußerungen durch die Meinungsfreiheit für gedeckt. Wie beurteilen Sie solche Urteile?
Viele dieser Urteile erschrecken mich. Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München ging es vor Kurzem um die Frage, ob ein Beamter aus dem Dienst entlassen werden soll, der sich in einem privaten Chat antisemitisch geäußert und dabei auch gewünscht hat, Frau Knobloch in ein KZ einzuweisen. Wie man als Gericht am Ende nur noch darüber diskutiert, ob der betreffende Beamte eine oder zwei Dienststufen degradiert wird, ist mir schleierhaft. So ein Mensch hat bei der bayerischen Polizei nichts zu suchen. Er konterkariert die gute und wichtige Arbeit der Polizei gerade gegen Antisemitismus.
Der Zentralrat ist auch das Dach der jüdischen Gemeinden und vertritt alle Denominationen. Er ist die gesellschaftliche, politische und religiöse Vertretung des deutschen Judentums.
Was sind für Sie die wichtigsten Meilensteine für den Zentralrat?
Die ganz großen Meilensteine waren einmal in den Siebzigerjahren das klare Bekenntnis des Zentralrats zu einem jüdischen Leben in Deutschland. Das war in der Nachkriegszeit auch innerjüdisch klar anders. Wenn man als Jude aus Deutschland ins Ausland gefahren ist und gesagt hat, man lebe in Deutschland, wurde man schief angeschaut. Den nächsten großen Meilenstein hatten wir Anfang der Neunzigerjahre mit dem sogenannten Kontingentflüchtlingsgesetz, das Jüdinnen und Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion die Möglichkeit eröffnete, nach Deutschland einzuwandern, um sie vor dem Antisemitismus dieser Staaten zu schützen und die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu stärken. Ohne diese Einwanderung gäbe es viele jüdische Gemeinden nicht mehr. Bedeutend war dann die Einrichtung einer Militärseelsorge bei der Bundeswehr vor wenigen Jahren, die für eine Normalisierung jüdischen Lebens in Deutschland spricht. Und aktuell der Bau der Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main, die im Sommer 2026 eröffnen wird.
Sie haben als Zentralrat die Nathan Peter Levinson Stiftung gegründet, um ein liberales Rabbinerseminar an der Universität Potsdam zu unterhalten und eine unabhängige liberale Rabbiner-Ausbildung unter dem Dach des Zentralrats zu etablieren. Das Präsidium der Universität weigert sich allerdings bisher, die Kooperationsvereinbarung mit dem Abraham Geiger Kolleg aufzukündigen, das einst von Walter Homolka geleitet wurde. Wie soll das weitergehen?
Eine mögliche Zusammenführung der beiden Rabbiner Seminare würde ich begrüßen. Der Zentralrat übernimmt Verantwortung für das liberale Judentum in Deutschland, das durch die Vorwürfe gegen den früheren Leiter und damaligen Inhaber des Abraham Geiger Kollegs stark beschädigt war. Unter dem Dach des Zentralrats gibt es neben der orthodoxen auch die liberale Rabbinerkonferenz. Das ergibt also alles Sinn, und auch die staatliche Förderung läuft nun an die Levinson Stiftung.