Kommentar zur Koalition: Die Quadratur der CDU-Kreise

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Es bedurfte nur einer kurzen Bemerkung des Kanzlers, um zu verstehen, dass nach dem Streit in der Koalition über eine Richterwahl gleich der nächste kommen wird, der über das Bürgergeld. Merz hatte Kürzungen beim Mietzuschuss empfohlen, schon ging es los: geht nicht, Katastrophe, unsozial. Sozialverbände, Ge­werkschaften und die SPD gingen sogleich auf die Barrikaden.

Die Gründe liegen für die SPD auf der Hand. Sie hatte im Dezember 2019 auf einem Parteitag in Berlin einen „neuen Sozialstaat“ ausgerufen. Der war eigentlich gar nicht neu, musste aber für die SPD neu erfunden werden, weil sie nach fünfzehn Jahren endlich Schluss machen wollte mit der Erblast von Schröders Agenda-Politik. „Wir lassen Hartz IV hinter uns“, rief die damalige Parteivorsitzende, An­drea Nahles, ihrer Partei zu. „Das Bürgergeld steht für ein neues Verständnis eines empathischen, unterstützenden und bürgernahen Sozialstaats“, hieß es im Antrag, der vom Parteitag beschlossen wurde.

Neue Grundsicherung

Ein zentraler Bestandteil der neuen Grundsicherung war genau der Punkt, den Merz jetzt ansprach, die Kosten der Unterkunft. Hubertus Heil, damals noch aufstrebender Arbeitsminister, stellte klar, dass der Schutz des selbst genutzten Wohneigentums und der Mietzuschuss „nie wieder“ eine so große Rolle spielen dürften wie unter Hartz IV. Das sei der falsche Weg. Als falsch wurden außerdem „sinnwidrige und unwürdige Sanktionen“ bezeichnet; allein schon das Wort „Mitwirkungspflichten“ war ein rotes Tuch für große Teile des Parteitags. Das Bürgergeld sollte „soziales Bürgerrecht“ sein, eine Formel, die Befürworter und Gegner eines bedingungslosen Grundeinkommens versöhnte.

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Davon soll sich die SPD nun wieder verabschieden? Nicht dass ihr die Abkehr von Hartz etwas gebracht hätte. Die Partei gab damals in Berlin nach Jahren der Selbstzerfleischung indirekt den Gegnern der Schröder-Reformen recht, die sich unter Protest von der Partei ab- und schließlich der Linkspartei zugewandt hatten. Die kehrten aber nicht zurück. Die Partei hatte sich einreden lassen, unter Schröder dem neoliberalen Zeitgeist auf den Leim gegangen zu sein. Dabei hatte sie nur getan, was andere sozialdemokratische Regierungen in Europa tun mussten: den Sozialstaat sanieren. Anders als die SPD wurden sie aber dafür belohnt.

Der Unterschied lag darin, dass die SPD ihre Reformen nicht als fortschrittlich, als stabilisierend, als gemeinnützig dargestellt hat. Sozial ist, was dem Sozialstaat dient – zu dieser Einsicht reichte es nicht. Die hätte vorausgesetzt, dass die SPD auf zwei Füßen steht, auf Wirtschafts- und auf Sozialkompetenz. Damit hätte sie der CDU Konkurrenz gemacht, die damals (Friedrich Merz wird sich gut erinnern, er war Oppositionsführer) in große Argumentationsnöte geriet. Vergessen hat die SPD, dass sie 2005 die Wahl damit beinahe gewonnen hätte. Danach ging es bergab, weil es auch mit dem Selbstbewusstsein bergab ging: Sie stand nicht zu ihrer Verantwortung und zu ihren Erfolgen.

Jetzt aber gibt es kein Zurück mehr. Die Bürgergeldwende von 2019 sollte der Partei Frieden bringen. Der währte nicht lange, weil wieder eine Situation eintrat wie die vor gut zwanzig Jahren, eine wirtschaftsfeindliche Überlastung des Sozialstaats. Die SPD kann und will darauf nicht mit strukturellen Entlastungen antworten, sondern mit „Effektivität“. Aus Angst vor einer zweiten Agenda-Erfahrung flüchtet sie sich damit wieder in eine Methode, die an vielen Schräubchen dreht und Schulden anhäuft, die aber nichts wirklich verändert. Die Rentenpolitik ist dafür das beste Beispiel, aber auch die Grundsicherung.

Die Schwäche der SPD

Die CDU kann sich darüber nicht freuen. Denn sie kann die Schwäche der SPD nicht zur Schärfung ihres ei­genen Profils nutzen. Wie die SPD von links steht die CDU aber von rechts unter Druck. Was die AfD mit dem Bürgergeld vorhat, ist fast identisch mit dem, was die CDU durchsetzen will. Dafür gäbe es also eine Mehrheit im Bundestag. Die Politik, die aus dieser Koalition hervorgeht, ist eine andere. CDU und CSU sind dazu verdammt, die Schräubchenpolitik der SPD mitzumachen, die nicht aus Vernunft, sondern aus deren Agenda-Trauma resultiert.

Vor dreißig Jahren sah die Welt noch anders aus. Da gab es eine klare Opposition, einen Verdrängungswettbewerb zwischen SPD und CDU. Was dann kam, gilt als die Vollendung der Konsensdemokratie, die Ära der großen Koalition. Weil aber die große Harmonie jene klare Opposition vermissen ließ, formierte sie sich nun links und rechts von beiden Volksparteien unweigerlich neu. Was wir jetzt erleben, sind paradoxe Versuche von CDU und SPD, innerhalb ihrer großen Koalition zur alten Konstellation, zur alten Konfrontation zurückzukehren, um die Opposition von links wie rechts zu entkräften. Siehe Richterwahl, siehe Bürgergeld. Für die Union ergibt sich daraus die Quadratur des Kreises. Denn sie muss sich nach links orientieren, obgleich die rechte Mehrheit immer größer wird.