Der verzweifelte Aufschrei der Zivilgesellschaft verklang am Ende ungehört. Am Dienstag stimmte das ukrainische Parlament für einen Gesetzentwurf, der die wichtigsten Anti-Korruptionsbehörden faktisch der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt.
Das Nationale Anti-Korruptionsbüro (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft (SAP) wurden erst nach der Maidan-Revolution mit westlicher Hilfe geschaffen, um Korruptionsbekämpfung ohne politische Einflussnahme zu ermöglichen. Das legislative Vorgehen stellt nun den plötzlichen Höhepunkt einer rasanten Eskalation gegen die unabhängigen Institutionen dar.
Die Kritik an der Regierung gärt seit den Durchsuchungen bei dem bekannten Anti-Korruptionsaktivisten Vitali Schabunin in der vergangenen Woche. Am Montag dann führten der Inlandsgeheimdienst SBU und die Generalstaatsanwaltschaft zahlreiche Durchsuchungen und Festnahmen bei der Sonderermittlungsbehörde (NABU) und der Sonderstaatsanwaltschaft (SAP) durch.
Geheimdienst spricht von Russland-Verbindungen
Nach Darstellung des SBU werden mehrere Ermittler verdächtigt, mit russischen Diensten kooperiert beziehungsweise Geschäftsbeziehungen nach Russland unterhalten zu haben. In Kriegszeiten ein besonders schwerer Vorwurf, der auch zur Diskreditierung von Institutionen beiträgt. Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft und Oppositionspolitiker werteten die Maßnahmen am Montag als Angriff auf die Institutionen selbst.
Der SBU hatte am Montagfrüh auf seinen Kanälen Videoaufnahmen von mehreren Durchsuchungen und Mitschnitte abgehörter Telefonate veröffentlicht. Im Zentrum der Ermittlungen steht laut dem Inlandsgeheimdienst ein hochrangiger NABU-Mitarbeiter, dem vorgeworfen wird, gemeinsam mit seinem Vater Geschäfte in Russland gemacht zu haben.
Darüber hinaus wirft der SBU einem aus dem Land geflohenen Abgeordneten der (mittlerweile verbotenen) prorussischen Partei „Oppositionsplattform – für das Leben“ vor, für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet und im engen Austausch zu NABU-Vertretern gestanden zu haben. Weiter habe man einen weiteren NABU-Mitarbeiter festgenommen, der selbst für russische Dienste tätig gewesen sein soll.
Auf diese Anschuldigungen reagierte das Nationale Anti-Korruptionsbüro noch am Montag mit einer eigenen Erklärung. Nach Angaben des NABU gab es insgesamt mehr als 70 Durchsuchungen, die sich gegen fünfzehn NABU-Mitarbeiter richteten. Viele der Durchsuchungen habe der Geheimdienst nicht mit Verbindungen nach Russland, sondern mit der Verwicklung in mehrere Jahre zurückliegenden Verkehrsunfälle begründet. In einem Fall sei gegen einen NABU-Ermittler körperliche Gewalt angewendet worden, nachdem dieser sich geweigert hatte, sein Telefon und dessen Sperrcode herauszugeben. Der NABU wies darauf hin, dass die Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss stattfanden.
NGO: Vorgehen gegen NABU politisch motiviert
Die Sonderstaatsanwaltschaft SAP teilte mit, dass der Inlandsgeheimdienst sich bei den Durchsuchungen Zugang zu allen geheimen und operativen Maßnahmen der Behörden verschafft habe. Die Behörde rief den SBU dazu auf, „die geltenden Gesetze strikt einzuhalten, um ein Durchsickern von Infos und die Störung der Ermittlungen zu verhindern“. Diese Aufforderung wies der SBU als „unbegründet und manipulativ“ zurück.
Die Nichtregierungsorganisation „Anti-Corruption-Action-Center“ (AntAC), gegen dessen Leiter Vitali Schabunin Behörden erst vor wenigen Tagen ebenfalls mit Durchsuchungen vorgegangen waren, sprach von einem „Versuch, unabhängige Institutionen zu zerstören“. Laut AntAC spricht für ein politisch-motiviertes Vorgehen, dass die meisten Durchsuchungen offiziell wegen der Beteiligung an Jahre zurückliegenden Verkehrsunfällen stattfanden.
Auch das Timing der Maßnahme werfe Fragen auf. Zum Zeitpunkt der Durchsuchungen waren die Chefs von NABU und SAP gerade auf Dienstreise in Großbritannien. Nach Bekanntwerden der Maßnahmen kündigten beide ihre sofortige Rückreise in die Ukraine an. AntAC deutete auch eine Verbindung zu den jüngsten NABU-Ermittlungen gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Olexij Tschernyschow an. Zugleich wirft AntAC dem neuen Generalstaatsanwalt Ruslan Krawtschenko eine besondere Nähe zur politischen Führung vor. Seine Aufgabe sei „die Zerschlagung unabhängiger Antikorruptionsinstitutionen, damit diese durch Ermittlungen gegen das Umfeld des Präsidenten keine Probleme verursachen“.
G-7-Botschafter äußeren „ernsthafte Bedenken“
Der Investigativjournalist Juri Nikolow schrieb in sozialen Netzwerken, der SBU habe sich Zugang zu allen geheimen Operationen der Anti-Korruptionsbehörden verschafft. „Überraschungen wie im Falle von Tschernyschow sind von nun an unmöglich“. Jaroslaw Schelesnjak, ein Abgeordneter der Oppositionspartei Holos schrieb: „Ich hab euch auch gesagt, dass nach […] Schabunin die Anti-Korruptionsbehörden dran sind“.
Die größte Beunruhigung bei Beobachtern aber erzeugte die am Dienstag beschlossene Gesetzesänderung. Noch vor der Abstimmung sprach die ukrainische Sektion von Transparency International von „einer direkte Bedrohung für die Unabhängigkeit des NABU – eines der wichtigsten Antikorruptionsbehörden, die mit der Unterstützung internationaler Partner als eine vor politischer Einflussnahme geschützte Institution geschaffen wurde.“
Die Vorsitzende des Ausschusses für Korruptionsbekämpfung der Werchowna Rada forderte die Abgeordneten ebenfalls auf, gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen. Die Botschafter der G-7-Staaten in Kiew, die im Namen des Westens in der Ukraine regelmäßig auf die Einhaltung demokratischer Standards dringen, sprachen in einer Erklärung von „ernsthaften Bedenken“, die man mit der politischen Führung des Landes zu besprechen gedenke. Dennoch stimmten 263 von 324 Abgeordneten dem Gesetzesentwurf zu. Damit die Änderung in Kraft tritt, muss Präsident Wolodymyr Selenskyj das Gesetz noch unterschreiben.