Erstmals seit Beginn der russischen Vollinvasion sind in der Ukraine am Dienstagabend Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um ihren Unmut über eine politische Entscheidung kundzutun. Die Demonstranten hielten im Zentrum Kiews selbst gebastelte Schilder in die Höhe, die an Wolodymyr Selenskyj gerichtet waren. Ziel der spontanen Ansammlungen, die nicht nur in der Hauptstadt Kiew, sondern auch in weit entfernten Städten wie Dnipro, Lemberg und Odessa stattfanden, war es, den Präsidenten von der Unterzeichnung eines erst am Vormittag vom Parlament eilig beschlossenen Gesetzes abzubringen.
Doch Selenskyj lenkte nicht ein. Kurz vor Beginn der abendlichen Sperrstunde machte unter den Demonstranten die Nachricht die Runde: Der Präsident hat das Gesetz 12414 mit seiner Unterschrift in Kraft gesetzt. Aus Sicht der Demonstranten hat die politische Führung des Landes damit die unabhängigen Antikorruptionsbehörden entmachtet, indem sie diese faktisch der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt.
Die Proteste werden getragen von Zivilgesellschaft, Aktivisten und Investigativjournalisten. Sie sehen in der jüngsten Entscheidung nicht nur einen herben Rückschritt im Kampf gegen den sogenannten „inneren Feind“ Korruption, sondern auch für die demokratische Entwicklung des Landes insgesamt. Die Sprechchöre der Demonstranten richteten sich gegen das Gesetz selbst, die Parlamentarier, die es beschlossen hatten, und den Leiter des Präsidialamts, den viele als den wahren Strippenzieher im Land sehen.
Selenskyj verteidigt die Gesetzesänderung
Am späten Abend äußerte sich Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache erstmals selbst zu der Kritik. Selenskyj verkündete, mit den Chefs des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Sonderstaatsanwaltschaft (SAP) gesprochen zu haben. Die Institutionen wurden nach der Maidanrevolution mit westlicher Hilfe geschaffen, um Korruptionsbekämpfung ohne politische Einflussnahme zu ermöglichen.

Die Entscheidung, sie nun der Generalstaatsanwaltschaft zu unterstellen, nannte Selenskyj in seiner Videoansprache notwendig. Als Begründung führte er eine „russische Unterwanderung“ der Antikorruptionsbehörden an.
Vorausgegangen war dem Gesetzesvorhaben ein koordiniertes Vorgehen gegen Antikorruptionsinfrastruktur. In der vergangenen Woche gab es Durchsuchungen bei Vitalij Schabunin, dem prominenten Leiter einer Antikorruptions-Nichtregierungsorganisation. Am Montag folgten dann Durchsuchungen des Inlandsgeheimdienstes SBU und der Generalstaatsanwaltschaft bei NABU und SAP.
Der Inlandsgeheimdienst SBU verwies nach den Durchsuchungen auf drei Mitarbeiter, denen Verbindungen nach Russland zur Last gelegt werden. NABU kritisierte hingegen die insgesamt mehr als 70 Durchsuchungen, die mitunter nicht mit Verbindungen nach Russland, sondern mit Beteiligung an Jahre zurückliegenden Verkehrsunfällen begründet wurden. Aktivisten und Investigativjournalisten sprachen von einem „gezielten Schlag“ gegen die Antikorruptionsbehörden selbst.
Der Entmachtung gingen Durchsuchungen voraus
Doch dieses Vorgehen war nur das Vorspiel für die legislative Entmachtung der Institutionen am Tag darauf. Hierfür bemühte die Regierung einen alten Trick: Ein bereits in erster Lesung verabschiedeter Gesetzestext wurde komplett abgeändert, um auf diese Weise schnell beschlossen werden zu können. Einige Parlamentarier bemängelten zudem, sie hätten keine Möglichkeit gehabt, den umfangreichen Text vor der Abstimmung überhaupt zu lesen.
Die Mehrheit, die das Gesetz am Dienstag in der Werchowna Rada absegnete, war dennoch überwältigend. 263 Parlamentarier stimmten dem Gesetz zu. Diese Mehrheit setzte sich vor allem aus Abgeordneten der Präsidentenfraktion „Diener des Volkes“, Abgeordneten der verbotenen prorussischen Oppositionspartei und der von Julia Timoschenko geleiteten „Batkyshina“ zusammen. Explizit gegen das Gesetz stimmten nur dreizehn Abgeordnete: neun Parlamentarier (und damit die Mehrheit) der Fraktion „Europäische Solidarität“ des früheren Präsidenten Petro Poroschenko sowie drei Abgeordnete der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ und ein fraktionsloser Abgeordneter. Dazu kamen dreizehn Enthaltungen, mehrheitlich aus der Opposition.
In der ukrainischen Öffentlichkeit stellen sich nun viele die Frage, was die Regierung zu solch einem radikalen Vorgehen gegen die Antikorruptionsbehörden veranlasst hat. Bekannt waren NABU-Ermittlungen gegen den früheren Vizeministerpräsidenten Olexij Tschernyschow, also ein ranghohes Regierungsmitglied.
Korruption ist eine der Hauptursachen in der Gesellschaft für die Unzufriedenheit mit Parlament, Regierung und politischen Parteien. Die Errungenschaften in der Korruptionsbekämpfung seit 2014, wenngleich es auch viele Rückschläge gab, sind für die ukrainische Zivilgesellschaft nicht verhandelbar. Die Menschen wollen den Druck auf den Präsidenten trotz der Unterzeichnung aufrechterhalten. Für den Mittwochabend wurden bereits neue Proteste angekündigt.