Proteste in der Ukraine: Selenskyj bemüht sich um Schadensbegrenzung

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Die Proteste in der Ukraine weiten sich aus. Am Mittwochabend gingen Tausende Menschen in 17 Städten gegen die Entmachtung der Antikorruptionsbehörden NABU und SAP auf die Straße. Zumindest auf rhetorischer Ebene hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj zuvor einen Deeskalationsversuch unternommen. Am frühen Abend schrieb er in sozialen Medien, man nehme die Stimmung in den sozialen Medien und auf der Straße wahr. „Das stößt nicht auf taube Ohren“. Deshalb werde man dem Parlament einen Gesetzentwurf vorlegen, der die Stärke des Rechtsstaats aufrechterhalten und russischen Einfluss auf die Strafverfolgungsbehörden verhindern werde. Mit dem Gesetz werde man auch Regeln für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehör­den formulieren. Am Donnerstagmittag ergänzte Selenskyj, er werde seinen Gesetzentwurf noch am selben Tag dem Parlament vorlegen.

Aus der Ankündigung allein ließ sich noch nicht ablesen, ob die Regierung eine echte Wende vollzieht und vollends Abstand vom Gesetz 12414 nimmt, welches Selenskyj erst am Dienstagabend durch seine Unterschrift in Kraft gesetzt hatte. Kritiker warfen dem Präsidenten zuletzt vor, auf Zeit zu spielen. Wann über das Gesetz abgestimmt wird, war am Donnerstagnachmittag noch unklar. Der Abgeordnete der Oppositionspartei Holos, Jaroslaw Schelesnjak, wies zuvor darauf hin, dass das Parlament kurz nach der aufsehenerregenden Abstimmung am Dienstag in eine vierwöchige Sommerpause ohne Plenarsitzungen gestartet sei. Aktivisten und zivilgesellschaftliche Organisationen dringen weiterhin auf ei­ne Rücknahme des Gesetzes, welches die Antikorruptionsbehörden faktisch Generalstaatsanwalt Roman Krawtschenko un­terstellen würde.

Ermittlungen gegen früheren Minister

Angesichts anhaltender Spekulationen über die Ursachen des plötzlichen Vorgehens gegen die Antikorruptionsinstitutionen sah dieser sich zu einem Versprechen veranlasst. „Ich gebe Ihnen mein Wort: Ich werde NABU den Tschernyschow-Fall nicht wegnehmen, die Ermittlungen werden andauern“, sagte er gegenüber Journalisten. Als Auslöser für das grobe Vorgehen gegen die Antikorruptionsbehörden sahen viele die Ermittlungen gegen Personen, die dem Präsidialamt nahestehen, allen voran Olexij Tschernyschow, den bis Mitte Juli amtierenden stellvertretenden Ministerpräsidenten.

NABU-Ermittler werfen Tschernyschow vor, noch während seiner Zeit als Infrastrukturminister, den Wert eines Baugrundstücks künstlich verringert zu haben, wodurch dem Staat ein hoher Schaden entstand. Als die Ermittlungen bekannt wurden, gab es Ende Juni Spekulationen, Tschernyschow werde nicht von seiner Dienstreise aus der Tschechischen Republik zurückkehren. Schließlich kam er doch zurück und versprach, mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten. Der Imageschaden durch einen amtierenden Minister „auf der Flucht“ wäre für Selenskyj immens. Zumal Tschernyschow der hochrangigste ukrainische Politiker ist, gegen den seit Kriegsbeginn Korruptionsvorwürfe erhoben wurden. Ihm drohen bis zu zwölf Jahre Haft.

Ein anonymer NABU-Ermittler, der vom Portal „Ukraijinska Prawda“ zitiert wird, sieht hingegen Vorermittlungen gegen Timur Minditsch als ausschlaggebend für das Vorgehen an. Minditsch ist Miteigentümer von Selenskyjs Produktionsfirma „Kwartal 95“ und soll die Ukraine vor rund einem Monat verlassen haben. Er soll seinerseits Tschernyschow bei einem Treffen in London zu einer Rückkehr geraten haben. Schon damals spekulierte Journalisten, Tschernyschow erhalte im Gegenzug das Versprechen, dass sein Verfahren vom NABU an eine andere – politisch kontrollierte – Behörde übertragen werde, um ihn vor einer Verurteilung zu schützen.

Andere kritische Beobachter sehen in der plötzlichen Entmachtung der Antikorruptionsbehörden keine konkrete Schutzmaßnahme – sondern die Fortsetzung eines autoritären Trends. Von westlichen Gesprächspartnern ist zu hören, dass sich Selenskyjs Regierung seit dem Regierungswechsel in Washington weniger an demokratische Normen und Reformbemühungen gebunden fühlt. So unternehme das Präsidialamt nun Schritte zur Machtkonsolidierung, die man zuvor aus Angst vor einer strikten amerikanischen Reaktion unterließ.

Die zweifelhafte Rolle des Geheimdiensts

Als Beispiel für eine solche – kaum verhohlene – Grenzüberschreitung könnte man die Nicht-Ernennung des Leiters der 2021 gegründeten Wirtschaftskriminalitätsbehörde BEB nennen. Die EU und der Internationale Währungsfonds haben eine Reform dieses Amtes zur Bedingung für die Fortsetzung ihrer Hilfszahlungen gemacht. Im Rahmen dessen wurde ein Anti-Korruptionsermittler von einer unabhängigen Kommission, bestehend aus ukrainischen und internationalen Mitgliedern, ausgewählt. Die Regierung weigerte sich aber, diesen zum Chef der Behörde zu ernennen, auch in diesem Fall mit Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ und „Verbindungen nach Russland“.

Der Oppositionsabgeordnete Jaroslaw Schelesnjak bemängelte nach der „Ukraine Recovery Conference“ in Rom Anfang Juli fehlende Gegenwehr des Westens: „Es gab keine starken Reaktionen von der G7, dem IWF oder der EU – alle waren sehr vorsichtig mit Kritik und niemand hat dieses Thema überhaupt angesprochen“, sagte Schelesnjak.

Dass der Inlandsgeheimdienst SBU federführend bei dem Vorgehen gegen die Antikorruptionsbehörden war, kommt nicht überraschend. Die Struktur stammt noch aus der Sowjetzeit und ist massiv überdimensioniert. Sein Aufgabenspektrum ist breit, auch die Strafermittlung zählt dazu. Immer wieder gab es Skandale und Berichte über russische Unterwanderung. Auch wird der Dienst für politisch gesteuertes Vorgehen gegen Regierungskritiker verantwortlich gemacht. So führten SBU-Agenten etwa Anfang 2024 nachweislich eine Diskreditierungskampagne gegen Investigativjournalisten von „Bihus“ durch. Machtkämpfe bei Korruptionsermittlungen zwischen NABU und SBU gab es schon vor Beginn der russischen Vollinvasion. Westliche Partner der Ukraine dringen schon lange auf Reformen der Behörde, die als Hindernis für eine engere Zusammenarbeit gesehen wird. Die Regierung in Kiew würde dadurch aber ein wichtiges Machtmittel verlieren.

Wofür Selenskyj gewählt wurde

Doch auch der Ruf der Antikorruptionsbehörden NABU und SAP ist nicht makellos. Das Vertrauen der Ukrainer in die Institutionen war zuletzt rückläufig, viele fordern schnellere und transparentere Ergebnisse im Kampf gegen die Korruption. Die Gründung der Antikorruptionsbehörden ging nach der „Revolution der Würde“ auf eine westliche Initiative zurück. Ihre Einrichtung war eine der Bedingungen, die damals vom IWF und der Europäischen Kommission für die Lockerung der Visabeschränkungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union gestellt wurden.

Auch aus Misstrauen vor den etablierten Behörden und deren politischer Unabhängigkeit wurde NABU als zentrale Exekutivbehörde mit Sonderstatus ins Leben gerufen. Ihr Leiter wird bis heute in einem transparenten Auswahlverfahren von einer Kommission ausgewählt, der auch Vertreter internationaler Organisationen angehörten. Die Behörde leitet Ermittlungen, kann selbst allerdings keine Anklage erheben, dafür ist die Sonderstaatsanwaltschaft SAP zuständig.

Die gesellschaftliche Verurteilung von Korruption hat sich während des Krieges verschärft. Immerhin schwächt der Diebstahl vom Staat diesen im Überlebenskampf mit unklarem Ausgang. Die Ukrainer haben außerdem nicht vergessen, dass die effektive Bekämpfung der Korruption 2019 Selenskyjs zentrales Wahlversprechen gewesen war.