Die Folgen eines Konflikts um Grenzverläufe und Wirtschaftszonen im Mittelmeer wirken sich derzeit vor allem auf Kreta und eine ihr vorgelagerte Insel aus. Auf Griechenlands größter und mit fast 630.000 Einwohnern bevölkerungsreichster Insel sowie auf dem nur von einigen Dutzend Menschen besiedelten Eiland Gavdos, dem südlichsten Punkt Europas, kamen in den vergangenen Wochen mehrere Tausend Migranten an, die an der libyschen Küste bei Tobruk in See gestochen waren.
Zwar waren die beiden Inseln auch in den vergangenen Jahren zeitweilig Schauplatz ähnlicher Szenen, doch in diesem Jahr sind die Zahlen deutlich gestiegen. Vor zwei Jahren wurden weniger als 800 illegal eingereiste Migranten auf Kreta registriert. In diesem Jahr kamen allein an wenigen Tagen im Juni mehr als 1300 an. Insgesamt waren es seit Januar etwa 8000.
Die Entwicklung steht in einem unübersehbaren zeitlichen Zusammenhang mit einem Territorialstreit im Mittelmeer. Dessen Ursprung liegt in einem Abkommen zwischen der Türkei und der libyschen Regierung in Tripolis, das Ende 2019 in Istanbul unterzeichnet wurde. Es war ausverhandelt worden zwischen dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan und dem damaligen Regierungschef Fajez Sarradsch, der von den Vereinten Nationen als Ministerpräsident Libyens anerkannt war, auch wenn seine Regierung nur einen Teil des Landes kontrollierte.
Liegt südlich von Kreta Öl?
In dem von einem militärischen Abkommen flankierten Vertrag legten Ankara und Tripolis ihre Seegrenzen im Mittelmeer auf eine Art fest, durch die Kreta und andere griechische Mittelmeerinseln vollkommen ignoriert wurden. Athen hat das Abkommen deshalb von Beginn an als null und nichtig abgelehnt. Die Europäische Union übernahm diese Position.
Bei dem Streit geht es nicht allein um Symbolik und imaginäre Linien auf internationalen Seekarten. Rohstoffvorkommen im östlichen Mittelmeer, die schon nachgewiesen wurden oder, etwa südlich von Kreta, als hochwahrscheinlich vermutet werden, spielen eine zentrale Rolle.
Zwar ist offen, ob sich die zum Teil in großer Tiefe gelegenen Vorkommen an Öl und Gas mit dem heutigen Stand der Technik wirtschaftlich ausbeuten lassen, doch kein Anrainer will bei dem Poker ins Hintertreffen geraten. Im April teilte die griechische Regierung mit, dass der amerikanische Energiekonzern Chevron von 2026 an südlich von Kreta mit Probebohrungen beginnen werde. Athen machte dabei deutlich, dass die Entscheidung, die Explorationsrechte an einen US-Konzern zu vergeben, natürlich auch eine geopolitische Komponente hat.
In dem über libysche Bande ausgetragenen Machtkampf mit der Türkei machte sich Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis bisher zunutze, dass es in Libyen als Spätfolge der Rebellion gegen den 2011 getöteten Diktator Muammar al-Gaddafi zwei Machtzentren gibt. Athen setzte als Gegengewicht zu dem türkischen Einfluss in Tripolis im Westen Libyens auf den Warlord Chalifa Haftar, der von Benghasi im Osten des Landes aus herrscht. Nur funktioniert dieses Doppelspiel nicht mehr, seit auch die Türkei es spielt.
Eine EU-Delegation in Benghasi
Zu behaupten, Ankara habe sich den Haftar-Clan durch militärische und wirtschaftliche Unterstützung gefügig gemacht, wäre übertrieben. Dass es der Türkei jedoch gelungen ist, ihn von Athen zu distanzieren, ist unübersehbar.
Eine europäische Delegation mit EU-Migrationskommissar Magnus Brunner und dem griechischen Migrationsminister Thanos Plevris, die in Benghasi über eine Eindämmung des Migrationsgeschehens verhandeln wollte, kehrte jüngst unverrichteter Dinge aus Benghasi zurück. Die Politiker konnten nicht einmal das Flugzeug verlassen, nachdem sie vom Haftar-Regime direkt nach der Landung zu unerwünschten Personen erklärt worden waren. Dass seit einiger Zeit immer mehr Boote mit Migranten von Küsten im Osten Libyens Richtung Kreta ablegen, passt zu diesem Bild.
Zwar sind die Migrationszahlen noch weit von jenen der Jahre 2015/16 entfernt, als Hunderttausende über die Ägäisinseln nach Griechenland sowie dann über den Balkan, Ungarn und Österreich vor allem nach Deutschland einwanderten. Doch anders als auf dem türkischen Festland oder Inseln wie Lesbos, Chios und Samos in der Ostägäis gibt es auf Kreta keine ausgebaute Infrastruktur zur Aufnahme von Migranten, von Gavdos ganz zu schweigen.
Das führt schnell zu politischen Spannungen. Angeheizt werden diese durch Migrationsminister Plevris, einen Hardliner vom rechten Rand der griechischen Regierungspartei Nea Dimokratia. Der sprach mit Blick auf Kreta von einer „Invasion Europas“ und einem angeblich geplanten „Bevölkerungsaustausch“.
Mitsotakis sucht Lösung mit Libyen
Als die lokalen Behörden unlängst 500 kurz zuvor von der Küstenwache gerettete Migranten – fast ausnahmslos junge Männer aus Ägypten, Sudan und Bangladesch – in Zelten auf einem Fußballfeld unterbrachten, verbreitete sich bei Anwohnern das Gerücht, die Regierung plane nun auch auf Kreta die Errichtung eines ständigen Lagers nach dem Muster von Moria auf Lesbos. Es kam zu Protesten und Straßenblockaden, Gewalt lag in der Luft. Die Migranten wurden eilends in eine abseits gelegene Lagerhalle und dann nach Athen gebracht. In der kretischen Stadt Chania wird ein ehemaliges Messegelände als Erstaufnahmelager genutzt, das aber nicht die Bedingungen für die Unterbringung von Menschen erfüllt.
Für die Regierung Mitsotakis, die sich gern ihres harten Vorgehens gegen irreguläre Migration rühmt, ist die Bewältigung der jüngsten Krise damit auch eine Bewährungsprobe. Anders als sein Migrationsminister, der sich vornehmlich durch markige Sprüche hervortut, scheint Regierungschef Mitsotakis aber verstanden zu haben, dass eine Lösung ohne oder gegen Libyen nicht möglich ist.
In dieser Woche lud Mitsotakis die international anerkannte libysche Regierung in Tripolis zu Gesprächen über die Abgrenzung von exklusiven wirtschaftlichen Einflusszonen im Mittelmeer ein. Doch um sein Kreta-Problem zu lösen, braucht er auch eine Einigung mit der Gegenregierung in Benghasi. Diese kann also wählen, was einträglicher für sie ist: die Schleuserbanden gewähren zu lassen oder für Geld aus Europa gegen sie vorzugehen.