Was bringt eine Meldepflicht für psychisch Kranke, wie Hessen sie einführen will?

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Nach jeder Gewalttat beginnt die Suche nach dem Motiv. Erst dann kann eingeordnet werden in Amok, Terror, Attentat. War die Tat politisch motiviert und hatte sie das Ziel, möglichst viele Menschen zu töten, ist später von Terror die Rede. Gab es ein gezieltes Opfer, etwa einen Politiker, kann es sich um ein Attentat handeln. Sollten viele Menschen getötet werden, aber bleibt das politische Motiv aus, liegt eine Amoktat nahe. In diesen Fällen lautet die erste Erklärung dann oft: Der Täter war wohl psychisch krank. So war es vergangenen Dezember in Magdeburg, im Januar in Aschaffenburg und auch im Mai in Hamburg. Schon nach der Tat in Magdeburg forderte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ein zentrales Register für psychisch Kranke. Man habe große Raster angelegt für Rechtsextremisten, für Islamisten, „aber offenkundig nicht für psychisch kranke Gewalttäter“, sagte er. Dieses Register gibt es bislang nicht. Aber zumindest in Hessen werden bestimmte psychisch Kranke fortan wohl polizeilich registriert.

Nach der Tat in Hamburg stellte sich Ralf-Norbert Bartelt vor die Kamera und sprach in einem Video auf Instagram über einen Gesetzesentwurf. „Es gibt Menschen, die sind schwer psychiatrisch erkrankt“, setzte der gesundheitspolitische Sprecher der CDU Hessen darin an und sagte dann: „Sie sind eine Gefahr für sich selbst und für die Gemeinschaft. Da müssen wir vom Staat etwas tun. Diese Personen“, sagte er, „müssen den Ordnungsbehörden gemeldet werden.“

Wenn von der Person eine Gefährdung ausgehen „könnte“

Was Bartelt da ankündigte, ist eine Reform des sogenannten Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, eingebracht von CDU und SPD im Hessischen Landtag. Das Gesetz bezieht sich nicht auf alle Menschen mit psychischen Krankheiten, sondern wird nur in einem spezifischen Fall angewendet. Nämlich immer dann, wenn eine Person psychisch krank ist und gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht wird. Diese Zwangseinweisung ist immer dann erlaubt, wenn eine Person entweder sich selbst gefährdet, also mit Suizid droht, oder wenn sie eine Gefahr für andere darstellt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


In der geplanten Reform geht es um diesen zweiten Fall: fremdgefährdend. Personen, die nach ihrer Behandlung wieder aus der Klinik entlassen werden, sollen demnach der Polizei gemeldet werden, wenn „zum Zeitpunkt der Entlassung aus medizinischer Sicht die Sorge“ besteht, „dass von der untergebrachten Person ohne ärztliche Weiterbehandlung eine Fremdgefährdung ausgehen könnte“. So steht es im Gesetzesentwurf.

Es gehe um die Sicherheit Deutschlands

Bartelt erklärte in seiner Ankündigung nicht weiter, was das konkret heißen soll. Das Video endet nach nur 31 Sekunden. „Ich bin einer dieser Menschen, die Sie stigmatisieren“, kommentierte ein Nutzer. Ein anderer fragte: „Und wer schützt uns vor der CDU?“ und „Geschichtsnerds werden sich womöglich an eine Zeit erinnern, in der so was Alltag war.“ Über 3000 Kommentare stehen mittlerweile unter dem Video der CDU Hessen. Die Aufregung war wohl auch deshalb so groß, weil Bartelt nicht erwähnte, dass es ausschließlich um Menschen geht, die gegen ihren Willen eingewiesen werden.

Schon Linnemann war für seine Aussagen scharf kritisiert worden. Gegner des Registers warfen der CDU vor, psychisch kranke Menschen mit ihren Forderungen zu stigmatisieren, während die Befürworter damals wie heute betonen, es gehe um die Sicherheit Deutschlands. Die Meldepflicht sei ein Mittel zur „effektiven Gefahrenabwehr“, heißt es im hessischen Gesetzesentwurf.

„Es müssten sehr viele Patienten gemeldet werden“

Daraus ergeben sich mindestens zwei Fragen. Erstens, welche Menschen sind es nun konkret, die zukünftig der Polizei gemeldet werden sollen? Und zweitens, was macht die Polizei mit diesen Daten?

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank ist Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie sagt, es sei zwar verständlich, dass versucht werde, für mehr Sicherheit in der Bevölkerung zu sorgen, aber die in dem Gesetzesentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen seien nicht der richtige Weg. „So wie der Gesetzestext formuliert ist, müssten sehr viele Patienten gemeldet werden“, sagt sie.

So, wie der Text formuliert ist, müssten viele von ihrem Psychologen gemeldet werden.
So, wie der Text formuliert ist, müssten viele von ihrem Psychologen gemeldet werden.Picture Alliance

Die „Sorge“, wie es darin heißt, dass ohne weitere Behandlung irgendwann wieder eine Situation auftreten „könnte“, in der Patienten andere gefährden, bestehe nämlich bei vielen. Zudem wiege die Aufweichung des Arztgeheimnisses sehr schwer. Insbesondere, weil unklar sei, wie die Meldungen helfen sollen, Gewalttaten zu verhindern. Gouzoulis-Mayfrank befürchtet, die Gesetzesänderung könnte das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich soll. „Wenn Patienten davon ausgehen, dass sie den Ordnungsbehörden gemeldet werden könnten, werden sie Gedanken und Empfindungen vor den Therapeuten zurückhalten.“

Die DGPPN hat kürzlich ein Positionspapier veröffentlicht. Darin beschreibt sie, dass Schizophrenien und andere Psychosen, bipolare Störungen, Substanzkonsumstörungen oder schwere Persönlichkeits­störungen das Risiko, eine Gewalttat zu begehen, um das Zwei- bis Neunfache erhöhen können. Der Verband sagt aber auch: „Psychische Erkrankungen sind weit verbreitet. Fast ein Drittel der Bevölkerung leidet jedes Jahr unter einer solchen Störung.“ Die Gruppe derjenigen, von denen eine Gefahr für andere ausgehen könnte, sei verhältnismäßig also „sehr klein“. Psychisch Erkrankte seien insgesamt nicht gewalttätiger als Menschen ohne psychische Erkrankungen.

Arzt sagt nein, Richter sagt ja

Aber es gibt eben auch Fälle wie in Aschaffenburg, in denen psychisch Kranke, die zuvor in Kliniken untergebracht wurden, zu Tätern werden. Fälle wie dieser können so aussehen: Ein psychisch kranker Mann wird wegen Körperverletzung und Bedrohung in eine Klinik eingewiesen. Drei Wochen später entscheidet eine Richterin, dass der Mann nicht mehr gefährlich sei. Er wird entlassen, obwohl die Ärzte ihn weiterhin für akut gefährlich halten. Nur einen Monat später greift der Mann im Wahn eine Frau an. Er schlägt sie und sticht mit einem Messer auf sie ein. Die Polizei kann ihn stoppen. Die Frau überlebt. Das ereignete sich 2016 in Frankfurt, nachdem ein Mann aus dem Universitätsklinikum entlassen worden war.

Andreas Reif ist Psychiater und Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. Der Direktor hält den jetzigen Entwurf für zu vage, aber unter bestimmten Umständen könnte die Meldepflicht aus seiner Perspektive sinnvoll sein. Dafür erklärt er drei Szenarien.

Erstens: Die Person ist fremdgefährdend, aber hat keine relevante psychische Erkrankung und wird dementsprechend wieder entlassen. Das komme in der Praxis so gut wie gar nicht vor.
Zweitens: Eine Person kommt wegen Fremdgefährdung aufgrund einer psychischen Erkrankung. Die Fremdgefährdung besteht erkennbar fort, aber der behandelnde Arzt lässt die Person gehen. „Das Risiko schätze ich auf null. Ein verantwortungsvoller Arzt würde das nicht tun“, sagt Reif.
Und drittens, das Szenario aus dem Fall von 2016: Der Arzt beantragt eine Verlängerung der Unterbringung, aber der Richter gibt dem nicht statt. Hier bliebe keine andere Wahl, als den Patienten zu entlassen. In Frankfurt komme das häufiger vor.

„An der Stelle halte ich die Meldung an die Polizei für sehr sinnvoll, wenn eine akute Gefahr für andere besteht. Aber das müsste im Gesetz genauer definiert werden“, sagt Reif. Dabei gibt es bereits Ausnahmen von der ärztlichen Schweigepflicht, die grundsätzlich auch gegenüber Strafverfolgungsbehörden gilt. Plant ein Patient etwa eine schwere Straftat, sind Ärzte bereits heute dazu verpflichtet, ihr Schweigen zu brechen und die Polizei zu informieren – auch um sich selbst entlasten zu können.

Es müsse um akute Gefahren gehen

In der jetzigen Fassung bestehe hingegen die Gefahr, dass im Gegenteil zu viel Verantwortung an die Ärzte abgegeben werde. „Die haftungsrechtlichen Fragen, die sich daraus ergeben, sind vollkommen unklar. Wie lange sind Ärzte noch verantwortlich? Wenn die Tat einen Tag nach der Entlassung passiert? Oder nach einem Monat? Oder einem Jahr?“, fragt Reif. Er betont immer wieder, es müsse hier um „akute“ Gefahren gehen. Dann handele es sich bei den Meldungen nur um sehr wenige Fälle.

Wenige Tage nach seinem ersten Video stellt sich der hessische Abgeordnete der CDU abermals vor die Kamera. Es habe viele Reaktionen auf seinen Beitrag gegeben, darunter auch kritische Fragen. Bartelt erklärt, es sei „ein kleiner Teil“ der Patienten, die der Entwurf betreffe. Die Entscheidung sei den Ärzten überlassen, denen man zudem „mehr Rechtssicherheit“ bieten wolle. Welchen Personenkreis der Entwurf konkret meint, wie akut die Fremdgefährdung also sein muss, bleibt weiter offen.

Doch aus Sicht der Kliniken ist das nicht das einzige Problem. Schon lange fordern Ärzte bessere Bedingungen in den psychiatrischen Kliniken. Sie beklagen Engpässe in der Behandlung, berichten von Betten, die aus Platzmangel auf den Fluren stehen. Manche von ihnen sagen sogar, es sei schwer für Patienten, unter diesen Umständen überhaupt gesund zu werden. Dass nun über eine Meldepflicht debattiert wird, halten sie für zynisch. „Die schönste Meldung bringt nichts, wenn es kein Konzept gibt, was mit den Menschen passieren soll“, sagt Reif. Es brauche frühzeitige Diagnosen, gute Behandlungen, gut aufgestellte Kliniken. „Mit einem Register allein wird keine Gewalttat verhindert.“

Was macht die Polizei mit den Daten?

Das führt zur zweiten Frage: Was macht die Polizei mit den Daten? Wie will sie mit diesen Informationen Gewalttaten verhindern? Auf Nachfrage der F.A.S. erklärt ein Pressesprecher des Polizeipräsidiums Frankfurt, die Polizei äußere sich grundsätzlich nicht zu Gesetzesvorhaben. Stattdessen hilft der Blick nach Bayern. Das Land hatte bereits 2018 eine zentrale Datei mit den Daten aller Patienten geplant, die zwangsweise in einer Psychiatrie untergebracht wurden. Nach heftiger Kritik schwächte die CSU ihre Reform ab. Sie führte stattdessen ein anonymisiertes Register ein – und eine Meldepflicht. Demnach müssen Kliniken die Polizei informieren, kurz bevor ein zuvor gegen seinen Willen untergebrachter Patient entlassen wird. Es sei denn, er war ausschließlich eine Gefahr für sich selbst. Diese Pflicht ist vergleichbar mit dem Vorhaben in Hessen. In beiden Fällen erhält die Polizei personenbezogene Daten. In Bayern können sie zunächst für fünf Jahre gespeichert werden.

Auf Nachfrage der F.A.S. erklärt ein Kriminalhauptkommissar, auf Grundlage dieser gespeicherten Meldungen könne es „Gefährdungsbewertungen für gefährdete Personen“ und gegebenenfalls „Schutzmaßnahmen“ geben. Auch könne es zu Gefährderansprachen kommen. Die Polizei teilt dabei Personen mit, dass sie als potentielle Gefahr eingestuft werden. Ähnliche Vorgehensweisen existieren auch schon in Hessen. Seit Anfang des Jahres prüft die Polizei systematisch Personen in ihrer Datenbank, bei denen sie in der Vergangenheit einen Hinweis zu psychischen Erkrankungen gespeichert hatte. Hintergrund ist eine Taskforce des hessischen Landeskriminalamts. Auch hier nannte die Polizei Gefährderansprachen als mögliche Maßnahmen. Betroffene können bei einer konkreten Gefährdung aber auch observiert oder in Gewahrsam genommen werden.

Die CDU-Fraktion des hessischen Landtags verwies auf Nachfrage der F.A.S. lediglich auf eine Pressemitteilung. Fragen nach der Eingrenzung des Personenkreises, wie lange die Polizei diese Daten künftig speichern darf und wie sie im Alltag helfen sollen, blieben unbeantwortet. Ebenso offen bleibt, wie viel Verantwortung künftig an die Ärzte übergeben wird. Ob sie dazu angehalten werden, nur die akuten Fälle zu melden, wie es bereits heute der Fall ist, oder ob sie tatsächlich, wie im jetzigen Entwurf vorgesehen, jeden Patienten melden müssen, der einmal fremdgefährdend war und es somit auch wieder werden könnte.

Die F.A.S. hat alle Bundesländer angefragt, ob sie ähnliche Reformen planen. Nicht alle haben bis Redaktionsschluss geantwortet. Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein teilten mit, derzeit an einer entsprechenden Reform zu arbeiten. Andere Länder wie Berlin, Bremen, Sachsen und Sachsen-Anhalt tun das nicht. Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums in Rheinland-Pfalz teilte mit, auch dort gebe es keine Reformpläne: „Wir sind überzeugt, dass eine konsequente und individuelle Behandlung sowie psychosoziale Betreuung unter Ausschöpfung der bereits bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen der wirksamere und verantwortungsvollere Weg sind.“