Klima-Gutachten des IGH: Wenn es um alles geht

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Ohne Natur kein Leben. Ohne saubere Umwelt keine Menschenrechte. Der Mensch braucht Luft zum Atmen und Wasser zum Trinken. Erst dann kann er (andere) Menschenrechte überhaupt erst ausleben. Ein Recht auf saubere, gesunde Umwelt ist also Bedingung für alle anderen Rechte: So sieht es der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten zum Klimaschutz. Und dieser Logik wird man schwerlich widersprechen können.

Doch was folgt daraus? Ähnlich wie beim Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts, das manche als Blankoscheck für Widerstand gegen demokratische Entscheidungen nehmen, könnte die einstimmig ergangene Bestandsaufnahme der Haager Richter als klärender Appell an die Gemeinschaft der Staaten verstanden werden, sich an Abmachungen zu halten und sich im Sinne des Klimaschutzes zusammenzuraufen.

Die Frage ist, was daraus folgt

Das Gutachten dürfte aber auch zu falschen Erwartungen führen. Das gilt weniger mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs zu den grundlegenden völkerrechtlichen Abkommen. Deren Bindungswirkung sollte klar sein, auch wenn man natürlich stets über den konkreten Gehalt und seine Folgen streiten kann. Verträge kann man zudem kündigen, wenn das vorgesehen ist.

Der Internationale Gerichtshof sieht darüber hinaus eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht der Staaten, erhebliche Schäden für die Umwelt zu vermeiden. Ein solches Gewohnheitsrecht, das sich aus der Praxis der Staaten und deren Rechtsüberzeugung ergibt, hatte der Gerichtshof schon in seinem grundlegenden Gutachten zum Einsatz von Atomwaffen von 1996 festgestellt. So wie diese Pflicht noch älter und von den Umständen abhängig ist, so leiten die Richter nun daraus auch die Pflicht zum Klimaschutz ab. Auch das ist nicht fernliegend, ebenso wie die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit auf diesem Feld. Wie soll grenzüberschreitender Umweltschutz, gar eine globale Bedrohung sonst bekämpft werden? Aber auch hier wird sich die Frage stellen, was daraus konkret folgt.

Für den Internationalen Gerichtshof ist ferner klar, dass Verstöße gegen die Pflicht, das Klima zu schonen, Folgen haben. Wenn demnach ein Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, etwa den Ausstoß von Emissionen zu reduzieren, so muss er sein Tun beenden und sicherstellen, dass er sich künftig an seine völkerrechtlichen Pflichten hält. Und nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit wäre er dann dazu angehalten, den früheren Zustand wiederherzustellen, also Wiedergutmachung und gegebenenfalls Entschädigung zu leisten.

Nahrung für neue Klagen

Es fällt nicht schwer, sich das Echo auf dieses Gutachten auszumalen, um das die UN-Generalversammlung mit der Mehrheit aller Staaten den Gerichtshof ersucht hatte: Nicht nur Kleinststaaten, die in ihrer Existenz von Hochwasser bedroht sind, sondern auch solche Länder, die andere für Umweltsünder halten, werden versuchen, auf der Grundlage dieses Gutachtens ihr Schicksal vor Gericht zu bringen.

Ja, jeder Erdenbürger, der sich vom Klimawandel bedroht fühlt, wird hier neue Nahrung für Klagen sehen, nicht vor dem Internationalen Gerichtshof, der Streitigkeiten zwischen Staaten entscheidet, doch vor anderen internationalen (Menschenrechts-)Gerichten und auch vor nationalen Stellen. Der Bauer aus Südamerika, der einen deutschen Konzern wegen dessen vermeintlichen Anteils an bedrohlichen Umweltschäden in Deutschland verklagt, wird kein Einzelfall bleiben. Das Geschäftsfeld vieler Nichtregierungsorganisationen, die – oft staatlich gefördert – gegen Staaten vorgehen, wird größer.

Die Staaten sind in der Pflicht. Sie machen ihre Gesetze. Und gestalten das Völkerrecht durch ihr Verhalten mit. Es liegt in ihrem Interesse, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen sowie Freiheit und Wohlstand ihrer Bürger zu wahren.

Der altehrwürdige Internationale Gerichtshof sieht selbst die Herausforderung seines Gutachtens und seine Grenzen: Er sei ein Gericht, das über rechtliche Fragen befinde. Zugleich gehe es hier um mehr, nämlich um eine existenzielle Frage von planetarischem Ausmaß. Deshalb seien alle Felder menschlichen Wissens, seien Wille und Weisheit gefragt, so der Gerichtshof – hoffentlich wissend, dass das eigene Gutachten auch Zwietracht säen kann.

So richtig und wichtig die Ermahnung ist, die selbst gesetzten Regeln einzuhalten und an die Verantwortung der Staaten zu appellieren: Es gibt noch andere Herausforderungen, die alle angehen und die auch die Welt in Brand setzen können. Wie die Vereinten Nationen, deren ständiges Sicherheitsratsmitglied Russland tagtäglich Frauen und Kinder bombardiert, ihrer laut UN-Charta „Hauptverantwortung“ für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nachkommen, sieht jeder. Das Klima verfinstert sich auch für die globale Nachkriegsordnung.