Die schwarz-rote Koalition und das Spahn-Experiment

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Mit dem 11. Juli verbindet Jens Spahn eines der bedrückendsten Erlebnisse seiner politischen Laufbahn. Der Vorsitzende der Unionsfraktion sitzt an jenem Tag im Bundestag und hört einer kurzen Geschäftsordnungsdebatte zu. Die findet statt, weil etwas anderes nicht stattfindet: die auf der Tagesordnung stehende Wahl zweier Richterinnen und eines Richters für das Bundesverfassungsgericht. Der CDU-Abgeordnete Spahn spricht nicht selbst. Er muss nur zuhören, was die fünf Redner sagen. Schwere Kost für ihn.

Denn in unterschiedlichen Nuancen beschäftigen sie sich damit, dass Spahn es nicht geschafft hat, den Widerstand seiner Fraktion gegen Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zu überwinden oder mindestens so früh zu erkennen, dass die Wahl nicht komplett hätte abgesetzt werden müssen. Dass er die SPD nicht davon überzeugen konnte, wenigstens zwei der drei Kandidaten zu wählen, was die Union gemacht hätte. Kurzum: Dass man irgend­einen Ausweg hätte finden können, um nicht am letzten Sitzungstag vor der parlamentarischen Sommerpause vorzuführen, wie diejenigen, die sich als Parteien der demokratischen Mitte bezeichnen, schon an einer gemeinsamen Richterwahl scheitern.

Von den Rednern der AfD und der Linkspartei namentlich ins Visier genommen zu werden, ist nicht schön für Spahn. Aber nicht überraschend. Heftiger ist schon der Schlag von Britta Haßelmann, einer der Vorsitzenden der Grünenfraktion. Ihr gesamter Redebeitrag ist ein Wutausbruch gegen Spahn, dem sie die Befähigung zum Amt des Fraktionschefs rund­heraus abspricht.

Noch härter schlägt der Koalitionspartner zu. Dirk Wiese, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer und damit die Num­mer zwei der SPD-Fraktion, vergleicht die Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts durch den Vorgang mit der Situation der Obersten Gerichte in den Vereinigten Staaten, in denen bekanntlich Donald Trump regiert, und der polnischen Gerichte unter der PiS-Regierung. Von einer „Hetzjagd“ aus „rechten Kreisen“ spricht er als erster Redner der Debatte. Spahn erwähnt er nicht mit Namen, aber der Ton ist gesetzt: Durch das Verhalten der Unionsfraktion droht Gefahr von rechts.

Große Koalitionen sind Geschichte

Selbst Steffen Bilger, Geschäftsführer der Unionsfraktion und damit Spahns wichtigster Partner in der Fraktionsführung, will ein echter Befreiungsschlag nicht gelingen. Der CDU-Abgeordnete beginnt seinen Beitrag mit dem Hinweis, dass die Wahl von Verfassungsrichtern „ei­ne der wichtigsten verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundestages“ sei. Damit ist die Flughöhe benannt, aus der man abgestürzt ist. Während Bilgers Rede ruft die SPD-Abgeordnete Rasha Nasr: „Ihr macht das Geschäft der AfD!“

Spätestens in diesen Tagen und am Beispiel des Streits über Frauke Brosius-Gersdorf wird klar, dass die große Koalition, als die Regierungen von Union und SPD einst bezeichnet wurden, Geschichte ist. Als vor zwanzig Jahren Angela Merkel die erste der vier Grokos dieses Jahrhunderts begründete, war das eine vollkommen andere Konstruktion als heute. Beide Lager waren fast gleich stark aus der Wahl hervorgegangen.

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Eine CDU-Kanzlerin, der viele Christdemokraten einen Zug zur linken Mitte vorhielten, verstand sich bestens mit Franz Müntefering, einem der letzten starken Genossen aus dem klassischen sozialdemokratischen Milieu. Der war von linksidentitärer Politik weit entfernt, führte die Arbeitsmarktreformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder fort und erhöhte mit Merkel das Renteneintrittsalter. Heute taumelt eine im Regierungsalltag zer­riebene SPD in Richtung einstelliger Umfrageergebnisse und sucht den rettenden Strohhalm im Kampf gegen eine Bedrohung der Demokratie von rechts.

Der Erste, den viele Genossen beim Blick nach rechts sehen oder zu sehen meinen, ist: Jens Spahn. Vermutlich hätten die meisten Sozialdemokraten noch bis zum 6. Mai, als Friedrich Merz – im zweiten Anlauf – zum Kanzler gewählt wurde, auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, mit Spahn in einer Koalition zusammenzuarbeiten, zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einem entsetzten „Niemals!“ geantwortet. Nun müssen sie und quälen sich erkennbar mit dem Fraktionsvorsitzenden.

Spahns Haltung zur AfD bereitet ihm Probleme

Ist Jens Spahn ein Rechter, vor dem die Linke, einschließlich der SPD, warnen muss? Ein entsprechender Ruf entstand über die Jahre vor allem durch sein An­rennen gegen die Migrationspolitik von Kanzlerin Angela Merkel. Doch die Kritik an deren Kurs reicht inzwischen über die Mitte hinaus bis nach links. Was die AfD zu Merkels Zeiten in der Asylpolitik forderte, ist mittlerweile Regierungspolitik, die sogar die SPD mitmacht. Man denke vor allem an die so lange umstrittene Zurückweisung von Asylsuchenden an der deutschen Grenze.

Im Übrigen geht es heute, da 151 Abgeordnete des Bundestages einer Partei angehören, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird, nicht mehr darum, ob ein CDU-Politiker als rechts bezeichnet wird. Es geht vielmehr darum, ob er sich irgendeine Form der Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen kann. Und seien es Gesprächskontakte. Spahn hat immer mal gezeigt, dass er nach rechts zumindest weniger Berührungsängste hat als andere. Seine engen Kontakte zum einstigen österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz von der ÖVP, der in Wien mit der rechtspopulistischen FPÖ regiert hat, waren vor einigen Jahren schon Ge­genstand einer Anfrage im Bundestag.

Gefestigt hat er seinen Ruf, es mit der Abgrenzung von der AfD nicht so streng zu sehen wie andere, noch kurz vor seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden Anfang Mai. Da wollte er die AfD in organisatorischen Fragen wie andere Oppositionsparteien behandeln. Geeignet erscheinende AfD-Kandidaten sollten etwa Ausschussvorsitzende werden können. Das hatte es schon gegeben. Die anschließende Debatte verlief so, wie man es von mancher Diskussion kennt, die AfD-Politiker losgetreten haben. Spahn wehrte sich gegen die Behauptung, von Normalisierung gesprochen zu haben, was er streng genommen auch nicht getan hatte, was aber so verstanden werden konnte.

Oder sollte? Politische Freunde von ihm beschreiben den Vorstoß als unglücklich oder falsch, versichern, dass Spahn nicht vorhabe, etwas mit der AfD zusammen zu machen. Allerdings schließen hinter vorgehaltener Hand auch andere in der Union nicht aus, AfD-Abgeordneten einen Ausschussvorsitz zu überlassen, sollte man sie für geeignet, also gemäßigt halten. Die Frage, wie der Vorsitzende der Unionsfraktion mit den rechts von der Union sitzenden Abgeordneten umgehen will, steht jedenfalls im Raum. Das würde auch für einen anderen Vorsitzenden gelten.

Wiese war überrascht über Merz’ Entscheidung für Spahn

Doch Friedrich Merz hat sich für Spahn als Fraktionsvorsitzenden entschieden. Es hätte Kandidaten gegeben, die einem sozialdemokratischen Koalitionspartner we­niger Angriffsfläche geboten hätten. Den jetzigen Chef des Bundeskanzler­amtes, Thorsten Frei, etwa, der mit Begeisterung den Job des Parlamentarischen Geschäftsführers gemacht hat. Der eine Schritt nach oben zum Vorsitzenden wäre naheliegend gewesen. In der Union redet man nicht offen darüber. In der SPD schon.

Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese, der das Scheitern der Richterwahl so hart kritisiert hatte, sagt im Gespräch mit der F.A.Z., er sei „schon überrascht“ gewesen, „dass Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz Jens Spahn überlassen hat“. Das könne schon in die „Nachfolgedebatten mit Blick auf 2029 reinspielen“. Über den Ehrgeiz von Spahn, noch höhere Ziele zu erreichen, macht man sich im Kanzleramt keine Illusionen und sieht das nicht nur mit Freude. Vermutlich hat Merz auch deswegen Frei ins Kanzleramt geholt, weil der ein enger Vertrauter ist. Den ein Vierteljahrhundert jüngeren Spahn muss der bald 70 Jahre alte Merz dagegen als potentiellen Konkurrenten betrachten.

Trotz aller Kritik sitzt Spahn als Fraktionsvorsitzender grundsätzlich fester im Sattel als die Bundesminister. Mehr als 90 Prozent der Abgeordneten haben ihn zu ihrem Chef gewählt. Auch wenn zahlreiche Unionspolitiker, mit de­nen die F.A.Z. sprach, die aber nicht zitiert werden wollen, Kritik an Spahns Umgang mit der Richterwahl üben und aus dem Kabinett zu hören ist, so etwas könne er sich nur einmal erlauben, gibt es in der Unionsfraktion bislang keine grundsätzliche Absetzbewegung vom Vorsitzenden.

Der Kanzler kann ihn ohnehin nicht rausschmeißen. Der Sozialdemokrat Rudolf Scharping hatte 1998 versucht, sich mit dem Griff nach dem Fraktionsvorsitz eine stabile Position im Machtkampf mit Bundeskanzler Gerhard Schröder zu verschaffen. Weil Schröder genau das ver­hindern wollte, machte er Scharping zum Verteidigungsminister – und warf ihn kurz vor der nächsten Bundestagswahl aus dem Kabinett. Spahn hatte schon am Ende der Ära Merkel keinen Hehl daraus gemacht, dass er gern Fraktionsvorsitzender würde. Merz hatte jetzt entweder nicht den Willen oder nicht die Kraft, das zu verhindern.

Merz verteidigte Spahn „wohldosiert“

Der Bundeskanzler dürfte sich vor allem in der Causa Brosius-Gersdorf ein reibungsloseres Agieren seines Fraktionschefs gewünscht haben. Schließlich hatte Merz sich zwei Tage vor der gescheiterten Wahl noch für die Bewerberin ausgesprochen. Kanzler pflegen so etwas zu tun, wenn sie überzeugt sind, sich auf ihre Fraktionsvorsitzenden verlassen zu können. Schaut man auf die Amtszeiten der Kanzler Schröder oder Merkel, so dauerte es Jahre, bis die Fraktionen zum ersten Mal nicht dem Kurs des Kanzlers beziehungsweise der Kanzlerin folgten, was immer auch ein Versagen des Fraktionsvorsitzenden ist.

Ein Gesprächspartner, der nicht namentlich genannt werden will, weist darauf hin, dass Merz zwar nach dem Scheitern der Richterwahl Spahn verteidigte, allerdings nur „wohldosiert“. Als er im ARD-Sommerinterview gefragt wurde, ob Spahn der richtige Mann an der Fraktionsspitze sei, antwortete Merz knapp: „Eindeutig: ja!“.

Friedrich Merz und Jens Spahn im Juli in Berlin
Friedrich Merz und Jens Spahn im Juli in Berlindpa

Einige Tage später wies er in der Bundespressekonferenz darauf hin, dass die Vorbereitung der Richterwahl Angelegenheit der Fraktion sei. Das durfte sich Spahn ans Revers heften. Aus der Sicht des Kanzlers hat Spahn in seiner kurzen Amtszeit schon einiges angehäuft, das den Eindruck einer reibungslos arbeitenden Koalition stört. Genau das wollen aber Merz und sein sozialdemokratischer Vizekanzler Lars Klingbeil nach den Jahren des Streits in der Ampel zeigen: Wir kümmern uns ruhig und einvernehmlich um das Wohl des Landes.

Spahn war zwar schon stellvertretender Vorsitzender, kennt also die Abläufe in der Fraktion. Aber Merz hat von deren Spitze wichtige Leute mit ins Kanzleramt genommen. Allen voran Frei, aber auch seinen Stabschef Jacob Schrot, der nun das Kanzlerbüro führt, und Jörg Semmler, den er zum Staatssekretär im Kanzleramt machte. Spahn musste all diese wichtigen Posten neu besetzen. Zudem ist der bis­herige Chef der CSU-Landesgruppe neuer Innenminister. Alexander Dobrindt war für die Abläufe in der Unionsfraktion und das Zusammenwirken von CDU und CSU einer der wichtigsten Abgeordneten.

Vorwürfe wegen der Maskenbeschaffung

Und dann muss Spahn sich ständig ge­gen Vorwürfe aus seiner Zeit als Gesundheitsminister verteidigen. Mit dem Bericht der sozialdemokratischen einstigen Staatssekretärin Margaretha Sudhof kam die Debatte über die Beschaffung von Schutzmasken während der Corona-Pandemie durch Spahn mit aller Wucht zurück. Grundsätzlich ist die im Sudhof-Bericht ausführlich dargestellte Tatsache nicht neu, dass er Milliardensummen für Schutzmasken ausgegeben hat, von denen es später hieß, die hätte man auch preiswerter bekommen können. Spahn rechtfertigt das damit, dass es besondere Zeiten gewesen seien und oberste Priorität nun mal der Schutz der Menschen gewesen sei. Manche denken, das mit der Richterwahl sei ihm vor allem passiert, weil er durch die Maskenvorwürfe abgelenkt gewesen sei.

Die Grünen sind schon bei diesem Thema mit aller Kraft gegen Spahn angerannt, die Linken nicht minder. Die SPD war noch etwas zurückhaltender. Im Einvernehmen mit dem christdemokratischen Koalitionspartner fassten sie im Bundestag den Beschluss, die Pandemie in einer Enquetekommission aufzuarbeiten statt in einem mit weitreichenderen Kompetenzen ausgestatteten und damit für Spahn unangenehmeren Untersuchungsausschuss.

Dennoch klappten einige Genossen gelegentlich den Koffer mit dem Folterbesteck auf und dachten laut über die Möglichkeit eines Untersuchungsausschusses nach. Dirk Wiese, der Sozialdemokrat, der sich öffentlich wundert, dass Spahn Fraktionsvorsitzender wurde, nimmt ihn jetzt, da die Maskenthematik zur Ruhe gekommen ist, in dieser Frage in Schutz. „Unsere Kollegen sagen, Spahn hat im Haushaltsausschuss zum Thema Maskenbeschaffung klar auf die Fragen geantwortet.“

Die Masken scheinen im Kampf gegen Spahn ihre Schuldigkeit endgültig getan zu haben, seit die Sache mit Brosius-Gersdorf eine viel wirkungsvollere Waffe ist. Wer immer sonst noch zu spät erkannt hat, dass Frauke Brosisus-Gersdorf mindestens ein Drittel, mit Dunkelziffer vielleicht aber auch noch mehr der Abgeordneten der Uni­on gegen sich hat: Jens Spahn trägt die Hauptverantwortung.

Warnzeichen vor der Richterwahl

Aus den Reihen der Grünen heißt es, dass ihnen Spahn und der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch bereits bis Mitte Juni die Namen der drei Kandidaten für die anstehende Verfassungsrichterwahl genannt hätten, darunter den von Frauke Brosius-Gersdorf. In der Union ist eher von der zweiten Junihälfte die Rede. Jedenfalls sei es nach Darstellung der Grünen in kleineren Runden danach um Mehrheiten gegangen, allerdings nur mit Blick darauf, ob und wie man die Linke einbinde. Dass es Bedenken wegen einer Kandidatin in der Union selbst geben könnte, sei mit keinem Wort erwähnt worden. Die Namen blieben zunächst geheim, aber offensichtlich gab es schon deutlich vor der Eskalation in der letzten Sitzungswoche Warnzeichen.

Ein Kabinettsmitglied berichtet der F.A.Z., dass bei einer Zusammenkunft der Minister von CDU und CSU Ende Juni, an der Spahn teilnahm, eine Ministerin gewarnt habe, es gebe Probleme mit Brosi­us-Gersdorf. Aus einer anderen Unionsquelle ist zu erfahren, dass in der Woche vor der geplanten Wahlwoche, also zwischen dem 30. Juni und dem 4. Juli, eine Unionsabgeordnete bei Spahn angerufen und gesagt habe, sie habe Schwierigkeiten mit Brosius-Gersdorf. Auch mindestens ein weiteres Mitglied der Fraktion soll ei­nen Hinweis an den Vorsitzenden in diesen Tagen weitergereicht haben. In näm­licher Woche soll in einer Schaltkonferenz des Geschäftsführenden Vorstands der CDU/CSU-Fraktion bereits „ausführlich“ über Bedenken gegenüber der Kandidatin gesprochen worden sein, berichtet eine an­dere Quelle. Der Fraktionsvorsitzende war also gewarnt, bevor die F.A.Z. die Namen der drei Bewerber enthüllte.

Am Montag der geplanten Wahlwoche, am 7. Juli also, entschied abends der Wahlausschuss des Bundestages, die drei Kandidaten für die Abstimmung am Freitag zu nominieren. Nach dem Bericht eines Teilnehmers verlief die Sitzung unaufgeregt und ohne größere Diskussionen zu den Personalien. Trotzdem zeichnete sich immer deutlicher ab, dass es Probleme geben könnte. Britta Haßelmann (Grüne), die Mitglied in dem Ausschuss ist, verließ sogar frühzeitig die Abschiedsfeier ihrer Parteifreundin Annalena Baerbock im Abgeordnetenrestaurant, um dabei zu sein. Auf dieser Abschiedsfeier war auch Spahn zu Gast.

In der Unionsfraktion gibt es unterschiedliche Darstellungen zur Reaktion Spahns auf die allmählich ansteigende Zahl der Abgeordneten seiner Fraktion, die sich gegen Brosius-Gersdorf wandten. Ein Abgeordneter sagt, Spahn habe nicht begriffen, wie die Fraktion „tickt“. Ein anderer sagt, Spahn habe schon vor der Wahlwoche einen Hinweis auf Widerstände gegeben.

Am Ende sind das Details. Spahn konnte die erforder­liche Mehrheit nicht beibringen. Abgesehen von einem zerknirschten Brief an die Fraktion, in dem er Verantwortung übernimmt, schweigt er. Merz versucht, Ruhe in die Angelegenheit zu bringen, indem er von allen erwartet, dass sie den Mund halten, bis sich eine Lösung abzeichnet. Dass sich weder in der Union noch – schon gar nicht! – in der SPD alle daran halten, ärgert ihn.

Spahn ist erst einmal nur für ein Jahr gewählt

Die Sozialdemokraten halten hartnäckig und öffentlich an Brosius-Gersdorf fest. Wenn das Spahn schadet, scheint es manchen gerade recht zu sein. Aus dem Kreis führender CDU-Politiker klagt jemand, dass die Sozialdemokraten noch nicht in die neue Rolle als Partner gefunden hätten, nach den heftigen Kontroversen zwischen Union und SPD in der Ampelzeit. Besonders der Januar habe das Verhältnis belastet. Gemeint ist die Abstimmung im Bundestag zur Migration, bei die Union auch AfD-Stimmen in Kauf genommen hatte. Doch die hatte nicht Spahn veranlasst – sondern der spätere Kanzler Merz.

Doch nicht nur die Bereitschaft der SPD, den Wahlstreit im Namen des Kampfes ge­gen rechts fortzusetzen, fällt auf. Noch deutlicher machen die Grünen aus der Angelegenheit einen Kulturkampf, in dessen Mittelpunkt Spahn steht. „Wir beobachten die Ausrichtung von Jens Spahn mit Sorge“, sagt die Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge der F.A.Z. Spahn habe eine Faszination für die Politik von Trump und enge Kontakte zur republikanischen Partei. „Das ist ein Weg, der die CDU weg aus der Mitte führen würde“, sagt Dröge. „Dieser Kurs darf sich in der Union nicht durchsetzen.“ Die Grünen wollen die CDU in der Mitte halten. So stellen sie es zumindest dar.

Neben dem Verdacht, Spahn wolle die Union näher an die AfD rücken, gibt es eine andere Überlegung. Jemand in der Unionsspitze, der Spahn schätzt, beschreibt die Herausforderung für die Union im Umgang mit der AfD so: Man müsse versuchen, den weniger Radikalen in der Rechtsaußenpartei klarzumachen, dass auch nur der Gedanke an Gespräche mit der Union eine Abkehr von den Extremisten in der AfD zur Voraussetzung hätte. Außer Spahn ist kein prominenter Christdemokrat in Sicht, der dafür infrage käme.

Für den Moment wirkt das allerdings wie eine theoretische Option. Nicht nur, dass in der AfD kein echter Wille zur Mäßigung zu erkennen ist. Angeschlagen, wie er ist, wäre Spahn derzeit gar nicht in der Lage, dieses Experiment zu wagen. Erst mal muss er sein Probejahr überstehen, von dem erst gut zwei Monate um sind. Die Union wählt nach dem Beginn einer neuen Legislaturperiode ihren Fraktionsvorsitzenden zunächst für ein Jahr, bevor sie ihn – gegebenenfalls – zum Chef für weitere drei Jahre bestimmt. Im Mai nächsten Jahres muss Spahn diese Hürde nehmen.