Mit Visum in den Ukraine-Krieg: Wie ein Chinese als Söldner für Russland kämpfte

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Tu Haolei kommt in Militärkleidung zum Treffen in einem Teehaus im chinesischen Hinterland. Die Uniformhose hat er in ockerfarbene Kampfstiefel gesteckt, das Langarmshirt in Tarnfarben hat eingewebte Ellbogenschoner. Ein Jahr lang kämpfte er als Söldner an der Seite der russischen Invasionstruppen. Obwohl er schon seit ein paar Monaten zurück ist von der Front in der Ostukraine, muss er noch jeden Tag an den Krieg denken. „Ich hatte ein paar enge Freunde, wir waren mehr als ein halbes Jahr lang Tag und Nacht zusammen. Einer hieß Vadja, kam aus Moskau. Er starb durch einen Kopfschuss; seine Augäpfel wurden vor meinen Augen herausgeschossen. Das war das erste Mal, dass ich so etwas Blutiges gesehen habe.“ Heute, sagt Tu, bereue er es zutiefst, dass er sich diesem Krieg angeschlossen habe.

Tu ist einer von mehr als 155 chinesischen Söldnern an der Seite der russischen Invasoren, die der ukrainische Geheimdienst ausfindig gemacht hat. „Wir wissen, dass es noch deutlich mehr sind“, sagte Wolodymyr Selenskyj im April. In Kiew ließ der ukrainische Präsident damals zwei chinesische Söldner vorführen. Ukrainische Truppen hatten die beiden gefangen genommen, 31 und 33 Jahre alt, ähnlich wie Tu. Selenskyj sagte, Russland schalte Rekrutierungsanzeigen in chinesischen sozialen Netzwerken. Die ukrainische Liste der 155 chinesischen Söldner liegt der F.A.S. vor. Auch Herr Tu ist darin zu finden, mit seinem richtigen Namen.

Tu sitzt leicht gebeugt am Tisch, die Ellbogen aufgestützt, raucht und erzählt. Manchmal lächelt er unsicher. Warum er sich den Russen angeschlossen habe? Er halte Selenskyj für „ekelhaft und heuchlerisch“, antwortet Tu. Zudem hasse er Japan, und er hat gelesen, dass Japan der Ukraine hilft. Es dauert etwas, bis er seine Geldprobleme erwähnt. Bevor er an der Seite der Invasoren in den Krieg zog, führte Tu in China eine Autowerkstatt. „In der Pandemie durfte ich das Geschäft nicht weiterführen. Es ist etwas peinlich, aber ich hatte noch eine Hypothek, und die zwei Jahre waren finanziell schwierig.“ Oft stritt er mit seiner Frau. „Ich wollte alles ändern.“

Zwei Monate Ausbildung

Auf Douyin, dem chinesischen Tiktok, lockte ihn die Anzeige: als Krieger für die russische Armee, für umgerechnet 20.000 Yuan im Monat, mehr als 2000 Euro. Die Anzeige hat er immer noch auf dem Handy, das Kyrillisch mit chinesischer Sprachsoftware übersetzt. Tu beantragte ein Touristenvisum für Russland, nahm einen Flug nach Moskau, ging in eine Polizeistation und fragte nach dem Rekrutierungsbüro. Dann ging alles recht schnell. Nach der Musterung gab es einen Test über seine Einstellung zum Nationalsozialismus, sagt er. Er behalf sich mit einer Übersetzungs-App auf dem Handy. „Man musste nur sagen, dass Hitler und der Nationalsozialismus schlecht sind, dann hatte man bestanden.“

Zwei Monate bildeten ihn die Russen aus. Auf einem Foto ist zu sehen, wie Tu an einer Schießanlage steht, auf einem Video, wie er eine Panzerfaust abfeuert und lacht. Er brachte Vorkenntnisse mit. Mehrere Jahre lang war er bei der paramilitärischen Bewaffneten Volkspolizei in China.

Mit dem Zug fuhr Tu dann in eine Kaserne in Brjansk nahe der Ukraine und Belarus. Bald ging es an die Front: 254. Motorschützenregiment, 144. Motorschützendivision, 20. Gardearmee. Überprüfen lassen sich seine Angaben nicht endgültig, aber sie sind stimmig. „Anfangs gehörten wir zu einer Art Reservetruppe, die dorthin musste, wo sie gebraucht wurde.“ Tu sagt, er war einfacher Fußsoldat. Dass er in China schon beim Militär gewesen war, war den Russen egal: Söldner kriegen keine besseren Positionen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Nach einem halben Jahr teilten ihn die Russen der Hauptangriffstruppe zu. Von angreifenden Einheiten wurden, anders als im Rückraum, jeden Tag Gefechtsberichte nach oben geschickt, sagt Tu. „Selbst wenn die Verluste mehr als achtzig Prozent der Kompanie betrugen, war das kein Problem – man füllte uns einfach mit neuen Rekruten auf.“

Tu scrollt auf seinem Handy durch eine Reihe von Aufnahmen eines befestigten Unterstands. In einer Ecke liegt ein Junge auf dem Boden. Er hat ein dunkelgraues Gesicht, seine Uniform ist seitlich vom Bein bis zur Brust zerfetzt. „Er ist tot, ich zog ihn zu uns rein, nachdem ihn Streumunition traf“, sagt Tu. „Die Russen sind ziemlich mutig; manchmal denke ich sogar, dass sie etwas dumm sind: Sie hätten doch warten können, bis die Bombardierung aufhört, bevor sie vorrücken.“ Tu sah viele Soldaten über fünfzig, manche sogar über sechzig Jahre alt, er sah welche, die schielten, die lahmten, mit chronischen Krankheiten. „Solche Zustände wären in China unmöglich.“

Zu Beginn seiner Kriegszeit traf Tu noch andere chinesische Söldner. Tu erzählt von zwei Chinesen, die in der Heimat wegen Onlinebetrugs gesucht werden. Die beiden seien auf die russische Staatsbürgerschaft aus gewesen, sagt er, die Moskau nach langer Dienstzeit in Aussicht stelle. Viele andere chinesische Söldner hält Tu für reine Angeber. Er zeigt ein Foto aus der Kaserne im russischen Brjansk, wo sie vor dem Kampfeinsatz stationiert waren. Ein nur in schwarzer Unterhose bekleideter Chinese hockt auf dem Rasen zwischen den weißen Gebäuden. Die Zigarette im Mund, vor sich ein tragbarer Satellitenempfänger, den er mit dem Handy verbunden hat. „Das ist er, wie er per Livestream vor seinen Followern so tut, als sei er voll dabei“, sagt Tu voller Verachtung.

Chinas Behörden kontrollieren nur lax

Im chinesischen Internet nennt sich der Mann „der Aufseher“. Tu erzählt, dass sich viele chinesische Livestreamer nur als Kämpfer ausgeben. Sie posten gefälschte Clips, pompöse Videos, die sie von russischen Kanälen im Internet ziehen und als eigene ausgeben. Zuschauer im Internet bringen Werbeeinblendungen, und die bringen Geld. Manche vermeintlichen Söldner verkaufen über ihren Kanal direkt Produkte von Werbekunden.

Nach Selenskyjs Vorführung der chinesischen Söldner im April ließen Chinas Behörden viele Douyin-Accounts sperren, auch den des „Aufsehers“. Mittlerweile sind die Internetkontrollen aber wieder laxer geworden, es tauchen wieder mehr chinesische Söldner-Videos auf. „Der Aufseher“ etwa hat jetzt einen neuen Kanal auf der Konkurrenzplattform Kuaishou eröffnet.

Ein chinesischer Söldner unter russischen Soldaten, zu sehen in den sozialen Medien.
Ein chinesischer Söldner unter russischen Soldaten, zu sehen in den sozialen Medien.Li Dafu/Douyin

Tu sagt, von den vielen ausländischen Söldnern in der Anfangsphase waren bald nur noch drei in seinem Regiment. „Ausländische Soldaten wurden schnell zermürbt“, erinnert er sich, „die Russen setzten uns oft für gefährliche Einsätze ein.“

Da waren zwei Ägypter, die im Schützengraben ein offenes Feuer anzündeten, um Konservendosen zu erhitzen, da die Russen wieder mal keinen Nachschub an Gaskanistern an die Front lieferten. „Eine Minute später legten zwei ukrainische Artilleriebeschüsse die gesamte Stellung in Schutt und Asche.“ Tus Überlebensregel: „Halte dich fern von Helden und Idioten.“ Aus Nepal stammen wohl die meisten Söldner auf russischer Seite. Nepal ist ein armes Land, Söldner gilt dort vielen als Beruf. Von 15.000 nepalesischen Kombattanten in der Ostukraine wird berichtet. Auch aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken kommen zahlreiche Männer.

Anfang des Jahres berichtete der französische Dienst „Intelligence Online“, dass die chinesische Botschaft in Moskau vom russischen Verteidigungsministerium wissen wollte, wie viele chinesische Staatsangehörige den russischen Streitkräften beigetreten seien. Peking habe keine schlüssige Antwort erhalten.

China will Russland nicht verlieren sehen

Dass der China gegenüber zumeist sehr vorsichtige Selenskyj im April öffentlich über chinesische Söldner sprach, zielte vermutlich auch auf einen anderen Adressaten ab: den chinakritischen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der den ukrainischen Präsidenten kurz davor im Weißen Haus gedemütigt hatte und den der ukrainische Präsident so wieder auf seine Seite ziehen wollte.

Aus Amerika kam danach keine Reaktion, wohl aber aus dem chinesischen Außenministerium. Das sprach von „grundlosen Anschuldigungen“ und „politischen Manövern“. Peking „fordert seine Bürger stets auf, sich von bewaffneten Konfliktgebieten fernzuhalten und jegliche Beteiligung an bewaffneten Konflikten zu vermeiden“, hieß es. Das betreffe „insbesondere die Teilnahme an militärischen Operationen jeglicher Parteien“.

Gleichzeitig ist China der wichtigste Unterstützer der russischen Kriegswirtschaft. Außenminister Wang Yi sagte in Europa, Peking wolle Russland nicht verlieren sehen, weil die USA ihren Fokus sonst voll auf China richten würden. China kauft Russlands Energie und liefert nach westlichen Angaben kriegswichtige Bauteile wie Werkzeugmaschinen, Schießpulver und zivile Drohnen.

Tu sagt, nach seiner Rückkehr sei er mehr als zehnmal von der chinesischen Polizei und der Staatssicherheit vorgeladen worden. „Sie interessierten sich vor allem für meine Beweggründe für die Teilnahme am Krieg und dafür, ob ich Kontakt zu ausländischen Streitkräften oder Verbindungen zu ausländischen Organisationen hatte.“ Die Beamten kopierten alle Daten auf seinem Telefon, die Staatssicherheit überprüfte seine Bankunterlagen und Anrufprotokolle. „Sie fragten mich auch, ob ich noch Kontakt zu Personen in Russland habe, ob ich die russische Staatsbürgerschaft besitze und ob ich nach Russland zurückkehren will.“ Am Ende hätten sie keine Probleme festgestellt. Ohnehin hält Peking den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht für illegal. In China gibt es auch kein Gesetz, das eindeutig verbieten würde, sich Russland als Söldner anzuschließen.

„Privat“ wollten die Ermittler dann noch von seinen Kriegserfahrungen wissen, sagt Tu. China interessiert sich sehr dafür, wie Russland gegen westliche Waffen und Taktik abschneidet. Soweit bekannt, teilt Moskau diese Erfahrungen höchst unwillig mit Peking. Es gibt Berichte von chinesischen Hackerangriffen auf das russische Militär.

Tu sagt, er hatte Glück, auch weil er ein gutes Verhältnis zu seinem russischen Kommandeur hatte. „Er hat mich nicht an andere Einheiten ausgeliehen.“ Anderen sei es schlechter gegangen. Ein Söldner sei gar von einem russischen Befehlshaber erschossen worden, erzählt Tu. Oft habe es an Nachschub gefehlt. Russische Lastwagen seien zu laut, die Fahrer trauten sich teils nicht, an die Front zu fahren. Ein kasachischer Söldner sei wegen der ständigen Wasserknappheit wütend gewesen und habe den Befehlshaber zur Rede gestellt. „Der Kommandeur sagte ihm, er solle sich verpissen.“ Der Söldner habe drohend seine Waffe gehoben. „Nach Monaten an der Front lagen die Nerven von allen völlig blank“, sagt Tu. „Der Kommandeur zögerte nicht – er zog seine Pistole und erschoss ihn, einfach so.“

Kommunikation per App

Die Kommunikation sei schwierig gewesen. Obwohl Mobiltelefone an der Front eigentlich nicht erlaubt seien, habe er oft eine Übersetzungs-App genutzt. Wenn der eigentliche Angriff begann, benutzten alle nur sehr einfache Wörter: „nach vorne“, „Stellung halten“, „zwei Leute links“, „zwei rechts“. Tu merkte sich vor allem die Zahlen. Für höhere Aufgaben waren Söldner ohnehin nicht vorgesehen. An Lagebesprechungen selbst vor Angriffen durften sie nicht teilnehmen, aus Angst vor Geheimnisverrat.

Tu sagt, unter höchsten Verlusten seien sie allenfalls wenige Hundert Meter vorangekommen. „Wenn wir einmal in feindliches Gebiet vorgedrungen sind, erlaubte man uns keinen Rückzug mehr“, sagt Tu. „Das Ganze war sehr starr und sinnlos.“ Er erinnert sich an ein Gefecht, nach dem er über mehr als 30 eigene Gefallene steigen musste.

Schusswaffen, die in chinesischen Internetvideos so häufig vorgezeigt werden, seien eher ein psychologischer Trost gewesen, erzählt Tu. Im eigentlichen Kampf kämen die Gewehre kaum zum Einsatz, sagt er. „Der Krieg stützt sich auf Artillerie und Drohnen.“

Zuhause erzählt er nur wenig

Einmal hätten ihn feindliche Drohnen in einem Dornengebüsch festgenagelt. „Normalerweise bin ich sehr ungeduldig, aber von 13 bis 21 Uhr blieb ich einfach platt auf der Erde liegen.“ In dieser Zeit habe er viel nachgedacht. „Ich hatte das Gefühl, dass ich an jenem 30. Mai 2024 hätte sterben sollen.“ Das war gegen Ende seiner Vertragszeit, da zogen ihn die Russen noch mal extra an die vordere Front. „Alles, was seitdem passiert, ist zusätzliche Zeit, die ich mir verdient habe.“

Seine einzige Verletzung ist ein Hörverlust auf dem rechten Ohr. „Ich genieße mein jetziges Leben, und vielleicht habe ich deshalb das Verlangen verloren, voranzukommen – ich bin schon damit zufrieden, dass ich einfach nur am Leben bin.“ Heute ist Tu arbeitslos.

Langsam, sagt er, erzähle er auch seiner Frau und seinem Kind von seinen Erlebnissen. Aber das meiste lasse er aus. „Sie haben so etwas nie erlebt und wollen einfach nicht verstehen, selbst wenn man davon erzählt.“ In China herrschte lange Zeit kein Krieg. Der letzte, den die Volksrepublik führte, war 1979 gegen Vietnam. China erlitt hohe Verluste. Tu findet, heute sei es für Chinesen kaum möglich, die Gefühle eines Kriegsheimkehrers wie ihm wirklich nachzuempfinden. Mit seiner Schlaflosigkeit und den Gedankenspiralen fühlt er sich allein. Sein Fazit: Für ihn persönlich hat der Einsatz als Söldner sich nicht gelohnt. 20.000 Yuan pro Monat sei auch für Chinesen wie ihn nicht viel. Außerdem verliert der Rubel beständig an Wert, sodass sein Sold auf dem chinesischen Konto weiter schrumpfte. Und für Russland, glaubt Tu, lohnt der Krieg sich auch nicht. „Ich denke, Russland hat, was die Erreichung seiner Ziele betrifft, bereits verloren. Selbst wenn sie am ­Ende gewinnen, wird es ein kostspieliger Sieg sein.“

Wochenlang hatte Tu sich nicht treffen wollen. Nun aber redet und redet er. Erst nach vier Stunden und acht Zigaretten hat er genug. Zum Abschied sagt er: „Es hat mich sehr gefreut, dass ich endlich mal alles erzählen konnte.“