Katherina Reiche (CDU) im F.A.Z.-Gespräch: „Wir können nicht ein Drittel des Erwachsenenlebens in Rente verbringen“

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Frau Ministerin, Sie sind nach zehn Jahren zurück in der Politik. Was hat sich am meisten geändert?

Die Debatten sind aufgeheizter und unerbittlicher geworden, gerade in den sozialen Medien. Wir brauchen wieder mehr Geduld, einander zuzuhören, müssen lernen, unterschiedliche Positionen auszuhalten und respektvoll miteinander umzugehen. Es scheint, als seien immer mehr Menschen in ihrer Bubble unterwegs, suchen Bestätigung für das eigene Weltbild. Das ist keine gute Entwicklung. Wir müssen wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen, Positionen austauschen und Kompromisse schließen.

Die Koalition wollte bis zum Sommer einen Stimmungsumschwung in der Wirtschaft erreichen. Seit dem Investitionsbooster kam aber wenig, das Wachstum fördert. Geht der Regierung schon die Kraft aus?

Es ist erstmal gut, dass wir mit den verbesserten Abschreibungsbedingungen und der schrittweisen Senkung der Körperschaftsteuer ab 2028 die Unternehmen entlasten. Das ist die erste Unternehmenssteuersenkung seit fast 20 Jahren. Wir entlasten auch das produzierende Gewerbe bei der Stromsteuer, wir schaffen die Gasspeicherumlage ab und senken die Netzentgelte. All das kommt bei den Unternehmen an.

Energieintensive Unternehmen warten auf den vergünstigten Industriestrompreis. Wann kommt der?

Wir wollen den Industriestrompreis sehr zügig einführen. Wir sind in der Bundesregierung mitten in den Haushaltsverhandlungen für 2026. Diese laufen kollegial. Wir verhandeln mit Hochdruck mit der Europäischen Kommission, damit wir den neuen EU-Beihilferahmen, der seit Juni gilt, so praxistauglich wie möglich umsetzen. Unser Ziel ist es, rund vier Milliarden Euro über drei Jahre aus dem Klima- und Transformationsfonds bereitzustellen.

Ihr Vorgänger Habeck hatte mit vier Milliarden, aber pro Jahr kalkuliert. Woher kommt die Differenz?

Wir gestalten den Industriestrompreis so aus, wie der durch die EU-Kommission vorgegebene Rahmen es zulässt. Wir haben schon sehr viel erreicht. Viel mehr als über die letzten Jahre möglich war. Erstmals gibt es für einen Industriestrompreis überhaupt eine beihilferechtliche Grundlage. Das ist der Vorgängerregierung nicht gelungen. Der Beihilferahmen nennt aber auch Bedingungen und Voraussetzungen, die Unternehmen erfüllen müssen, wenn sie in den Genuss des Industriestrompreises kommen wollen, die wir jetzt so bürokratiearm wie möglich umsetzen wollen.

Nur stromintensive Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, werden vom Industriestrompreis profitieren, befristet auf drei Jahre. Und 50 Prozent dessen, was sie an Kosten sparen, müssen sie in Effizienzmaßnahmen investieren. Hier müssen wir mit der Kommission noch über Details reden: Das Instrument muss für die Wirtschaft attraktiv und ohne zu viel Bürokratie zu einer echten Entlastung führen. Wichtig ist auch: Der Effizienznachweis muss möglichst unbürokratisch erfolgen.

Wann kommt die Senkung der Stromsteuer für alle Verbraucher?

Ziel ist, die Stromsteuer so schnell wie möglich für alle zu senken. Aber den finanziellen Spielraum dafür müssen wir uns erst erarbeiten – durch Wirtschaftswachstum. Dazu müssen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und strukturelle Reformen angehen.

Warum haben Sie entschieden, Gas günstiger zu machen, nicht aber den Strom?

Die Gasspeicherumlage wird aus dem Klima- und Transformationsfonds finanziert und kommt allen zugute, Unternehmen und Verbrauchern. Die Senkung der Stromsteuer müsste aus dem Haushalt bezahlt werden, die Spielräume dafür waren bei der Haushaltsaufstellung nicht verfügbar.

Für die Ausweitung der Mütterrente ist Geld da. Setzt die Koalition nicht die falschen Prioritäten?

Wir entlasten Privathaushalte erheblich: Die Übernahme von 3,4 Milliarden Euro bei der Gasspeicherumlage und der Zuschuss von 6,5 Milliarden zu den Netzkosten kommen allen Verbrauchern zugute. Und auch der Entfall der EEG-Umlage für den Ausbau der Erneuerbaren ist eine Riesenentlastung für die Verbraucher. Die 17 Milliarden Euro – Tendenz steigend – werden aus Haushaltsmitteln finanziert.

Sie wollen das ordnungspolitische Gewissen der Regierung sein. Warum äußern Sie so wenig Kritik an dem teuren Rentenpaket und dem bürokratischen Tariftreuegesetz von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD)?

Beide Gesetzentwürfe sind noch nicht beschlossen, sondern werden aktuell in der Regierung beraten. Hier haben wir intern unsere Kritik geäußert und Änderungen durchgesetzt. Der Koalitionsvertrag bindet uns. Aber ich sage auch: Was im Koalitionsvertrag an Reformen steht, wird auf Dauer nicht reichen. Die sozialen Sicherungssysteme sind überlastet. Die Kombination aus Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben machen den Faktor Arbeit in Deutschland auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig.

Der demographische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen. Wir müssen die Anreize für Frühverrentungen stoppen und Anreize dafür schaffen, länger zu arbeiten. Ohne Zweifel sind viele Beschäftigte in Deutschland in körperlich anstrengenden Jobs tätig, im Bau oder in der Pflege. Es gibt aber auch viele, die länger arbeiten wollen und können. Das Lebensglück besteht für viele Menschen eben nicht allein darin, möglichst früh in Rente zu gehen, sondern ihre Erfahrung weiter einbringen zu können.

Also Schluss mit der Rente mit 63 und das Eintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln?

Es kann jedenfalls auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen. Bereits 2005 hat der damalige Präsident des DIW, Klaus Zimmermann, gefordert, die Rente müsse bis spätestens 2025 auf 70 Jahre steigen. Leider verweigern sich zu viele zu lange der demographischen Realität. Wir müssen mehr und länger arbeiten.

Glaubt man den Gewerkschaften, sind die Arbeitnehmer schon heute überlastet.

Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, berichten, dass ihre Beschäftigten an ihrem US-Standort 1800 Stunden im Jahr arbeiten, in Deutschland 1340 Stunden. Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig.

Neben hohen Steuern und Sozialabgaben leidet die Wirtschaft unter den Zöllen. Sie werden wahrscheinlich deutlich höher bleiben als vor Trumps zweiter Amtszeit. Wie sehr dämpft das unser Wachstum?

Ich habe bewusst nicht in den Jubelchor eingestimmt, als einige Institute kürzlich ihre Wachstumsprognosen angehoben haben. Wir haben Vorzieheffekte vor dem Inkrafttreten der Zölle gesehen. Das ist kein nachhaltiges Wachstum. Die Konjunktur kann sich nach den vorgezogenen Exporten im Frühjahr wieder abkühlen. Höhere Zölle würden die Wirtschaft treffen. Deshalb müssen wir weiter alles dafür tun, dass die Europäische Kommission mit der US-Regierung eine gute Verhandlungslösung erzielt. Besonders betroffen wäre die Automobilindustrie – Hersteller wie Zulieferer. Das müssen wir verhindern.

Die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands von China ist nach wie vor hoch. Inwiefern muss die Chinastrategie angepasst werden?

Die Chinastrategie müssen wir mit Blick auf die erforderlichen Maßnahmen auf Aktualität überprüfen. Dieser Prozess ist angelaufen. Der Einfluss Chinas hat sich enorm entwickelt, wirtschaftlich, technologisch, militärisch. Wir unterschätzen diese Kombination aus geopolitischem Anspruch und technologischer Leistungsfähigkeit. Uns fehlt eine adäquate Antwort auf China, etwa in Bezug auf Künstlichen Intelligenz oder Rohstoffe. Da haben wir keine nennenswerten eigenen Akteure.

Wie lässt sich die Rohstoffabhängigkeit lösen, etwa bei Seltenen Erden?

Das geht nicht kurzfristig. Wir müssen in Europa wieder mehr Bergbau betreiben, Rohstoffe fördern und auch weiterverarbeiten, raffinieren. Das sind hoch energieintensive Prozesse. Zudem brauchen wir Abkommen mit anderen Ländern, etwa in Zentralasien, Australien, Kanada. Die Ampel hatte sich vorgenommen, Rohstoffpartnerschaften einzugehen, aber in der Umsetzung blieb vieles im Vagen. Der Rohstofffonds wurde aufgesetzt, aber stiefmütterlich behandelt. Da geben wir jetzt Gas, wir wollen im Herbst die ersten Projekte bewilligen, so dass dann auch die notwendigen Investitionsentscheidungen getroffen werden. Das ist aber nicht genug. Wir brauchen ein gemeinsames Commitment mit den Amerikanern und anderen westlichen Partnern.

Apropos Fonds: Im Koalitionsvertrag steht ein Deutschlandfonds, mit dem der Staat zum Investor werden soll. Haben Reinfälle wie Northvolt nicht gezeigt, dass die Politik besser nicht einzelne Unternehmen päppelt?

Der Deutschlandfonds soll als Dachfonds fungieren, strukturiert und gemanagt von der KfW. Die verschiedenen Finanzprodukte müssen für Investoren interessant sein, nicht politische Kästchen bedienen. Eine Säule im Deutschlandfonds kann der Rohstofffonds sein. Eine weitere Säule Finanzierungen für Start-ups. Eine weitere Säule der Ausbau der Infrastruktur, speziell im Energiebereich. Möglicherweise kommt ein Angebot für Startups aus dem Verteidigungsbereich dazu.

Das heißt aber auch: staatliche Beteiligungen an Unternehmen?

Staatliche Beteiligungen sind nicht per se verwerflich. Schon gar nicht, wenn es sich um strategische Beteiligungen handelt, um Deutschlands kritische Infrastruktur aus Gründen der Resilienz und Souveränität zu schützen. Beispiele sind der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz oder TransnetBW. Es wäre keine gute Idee, Investoren aus Ländern an unserer kritischen Infrastruktur zu beteiligen, die nicht unsere Werte teilen. Hinzu kommt: Es ist für die Netzbetreiber anspruchsvoll, Milliarden für die nötigen Investitionen am Kapitalmarkt aufzunehmen. Da kann es helfen, neben einer attraktiven, regulativen Verzinsung der Netze den Staat im Hintergrund zu haben mit seiner guten Bonität. Unser AAA-Rating hilft hier.

Ist das Triple-A-Rating in Gefahr?

Nein, aber die steigende Staatsverschuldung muss mit Strukturmaßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit verbunden werden. Wir müssen die Schulden ja auch wieder bezahlen. Deutschland muss Stabilitätsanker in Europa bleiben. Dafür werden wir alles tun.

Zurück zum Deutschlandfonds: Wann startet er?

Wir sind derzeit noch der konzeptionellen Phase, wollen aber sehr bald mit den ersten Finanzprodukten am Markt sein.

Sie haben ein Monitoring zu Überprüfung der Energiewende in Auftrag gegeben. Könnte am Ende das Ergebnis sein, dass Deutschland sein Klimaziel – CO2-Neutralität 2045 – aufgeben sollte?

Das Klimaziel 2045 gilt, aber es ist verdammt ambitioniert. Die Transformation ist hochkomplex, verläuft nicht linear. Man kann nicht jedem Akteur, ob Unternehmen oder Privathaushalt, jeden einzelnen Schritt vorschreiben. Nehmen wir den Gebäudebereich: Ohne die Bereitschaft von Hausbesitzern, zu sanieren oder in ein neues Heizungssystem zu investieren, wird es nicht gehen. Leider fühlten sich viele Hauseigentümer in der letzten Legislaturperiode zu recht überfordert.

Was wird sich am Ausbau der Erneuerbaren ändern?

Der Ausbaupfad der erneuerbaren Energien und der Netzausbau müssen synchronisiert werden. Betreiber von Anlagen erneuerbarer Energien müssen mehr Systemverantwortung übernehmen. Dazu müssen sie zum Beispiel für den Netzbetreiber steuerbar sein oder Baukostenzuschüsse übernehmen. Kurzum: Sie sind Teil des Gesamtsystems und müssen hierzu einen Beitrag leisten, auch zu den Kosten. Und wir brauchen eine maximale Offenheit für alle Technologien.

Wann kommt das CCS-Gesetz für das unterirdische Verpressen von CO2 ?

Es ist unser Ziel, das CCS-Gesetz noch im Sommer im Kabinett zu beschließen. Die Industrie braucht jetzt dringend Klarheit, damit sie investieren kann.

Bleibt im Gebäudeenergiegesetz die Vorgabe, dass neue Heizungen zu 65 Prozent mit Erneuerbaren laufen müssen, wenn die kommunale Wärmeplanung abgeschlossen ist?

Wir werden das Gebäudeenergiegesetz verständlicher, bürokratieärmer und technologieneutraler ausgestalten. Gleichzeitig sind die Kommunen gefordert, den Bürgerinnen und Bürgern attraktive und klimaverträgliche Heizungslösungen zu ermöglichen. Ohne eine gute und solide Wärmeplanung vor Ort wird es nicht gelingen, die ehrgeizigen Klimaziele im Gebäudesektor zu erreichen. Der starke Fokus der Ampelregierung auf Einzelbestimmungen im Gebäudeenergiegesetz hat dem Thema eher geschadet als geholfen.

Die Grünen kritisieren, die geplanten Gaskraftwerkskapazitäten seien zu hoch. Zu Recht?

Wir müssen schnell gesicherte Leistung ans Netz bringen, die im Koalitionsvertrag vereinbarten 20 Gigawatt sind dafür sicher nicht zu hoch angesetzt. In einem ersten Schritt werden wir Gaskraftwerke ausschreiben. Klar ist aber auch, dass diese langfristig dekarbonisieren müssen.

Zwischen Ihnen und Umweltminister Carsten Schneider (SPD) gibt es einen Dissens, ob die Kernkraft in der EU als nachhaltig eingestuft werden soll. Der nächste Großkonflikt der Koalition?

Nein. Es war die Ampelkoalition, die den Regeln der EU-Taxonomie zugestimmt hat. Demnach kann die Kernenergie schon heute als nachhaltig gelten. Meine Empfehlung ist, dass sich Europa technologisch so breit wie möglich aufstellt. Andere Länder haben einen anderen Energiemix und das respektieren wir. Die SMRs (Small Modular Reactor), von denen oft die Rede ist, stehen nicht morgen und auch nicht übermorgen in großem Stil bereit. Europa darf diese Technologieentwicklung aber nicht allein anderen überlassen. Im Übrigen schätze ich meinen Kollegen Carsten Schneider außerordentlich.

Eine private Frage: Ihr Lebensgefährte Karl-Theodor zu Guttenberg war früher selbst Wirtschaftsminister. Wie oft reden Sie abends auf dem Sofa über Wirtschaftspolitik?

Mein Privatleben bleibt privat. Nur so viel: Ich sitze abends selten auf dem Sofa.

Zur Person

Bundesweit bekannt wurde die CDU-Politikerin Katherina Reiche im Wahlkampf 2002, als Edmund Stoiber sie für Familienpolitik in sein Kompetenzteam berief. Unter Angela Merkel stieg Reiche zur Staatssekretärin im Umwelt- und im Verkehrsministerium auf. 2015 wechselte sie an die Spitze des Stadtwerkeverbands VKU. Von 2020 an führte sie die Eon-Tochtergesellschaft Westenergie. Nach den Koalitionsverhandlungen und den Absagen von Carsten Linnemann und Jens Spahn bot CDU-Chef Friedrich Merz Reiche das Wirtschaftsministerium an. Die gebürtige Brandenburgerin ist 52 Jahre alt. Ihr Lebensgefährte ist der frühere Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.