Wolodymyr Selenskyj hat der Ukraine Schaden zugefügt. Er hat ein Gesetz durchgebracht, das die zentralen Institutionen des Landes im Kampf gegen die Korruption entmachtet: die Ermittlungsbehörde NABU und die Sonderstaatsanwaltschaft SAP. Jetzt hat er zwar nach Demonstrationen in Kiew und in anderen Städten sowie nach ein paar harten Worten der europäischen Verbündeten ein neues Gesetz angekündigt und auch gleich einen Text dafür vorgelegt. Und das Aktionszentrum gegen Korruption ANTAC, eine angesehene zivilgesellschaftliche Einrichtung, hat anerkannt, dass der Entwurf den alten Zustand wiederherstellen könnte. Aber erstens ist der noch nicht beschlossen, und zweitens ist jetzt das Vertrauen in Selenskyjs Einsatz für Demokratie und Rechtsstaat im In- und Ausland ramponiert.
Für den missratenen Coup des Präsidenten gibt es gegensätzliche Erklärungen. Kritiker sagen, er habe Ermittlungen gegen korrupte Freunde stoppen wollen. Seine Verteidiger erwidern, in NABU und SAP hätten sich russische Agenten eingenistet – haben dafür aber nur wenig überzeugende Argumente. Im Übrigen sei Selenskyj der einzige Präsident seit Beginn des Jahrhunderts, der nicht in seine eigene Tasche wirtschafte.
Das mag sein, und vielleicht hatte er auch verständliche Gründe für sein Vorgehen. Die Resilienz der Ukraine im Krieg beruht auch darauf, dass in Armee und Rüstungswirtschaft manche Kontrollvorschriften in den Hintergrund getreten sind, um im Wettbewerb mit Russland Zeit zu sparen und Vorsprung zu wahren: Ausschreibungen, Berichtspflichten, formalisierte Preis- und Qualitätsstandards. Da können penible Aufsichtsbehörden aus der Sicht des Feldherrnhügels wie Bremser wirken.
Selenskyj führt bislang auch durch Integrität
Trotzdem gefährdet der Schlag gegen die Kontrolleure die Verteidigungskraft der Ukraine mehr, als er sie fördert. Dass Armee und Bevölkerung die Opfer des Krieges akzeptieren, beruht auf einem kollektiven Bekenntnis, dessen Geist in sechs Worte gefasst werden kann: „Wir wollen nicht sein wie Russland“ – also keine Diktatur, in der eine zynische Elite sich den Staat zur Beute macht. „Weg mit der Korruption“, war in der proeuropäischen Revolution des „Euromajdan“ vor elf Jahren der erste Satz dieses Bekenntnisses. Jetzt haben die Demonstrationen in Kiew, Dnipro oder Odessa gezeigt, dass dieses Bekenntnis lebt. Wenn Selenskyj den Anschein erweckt, es zu verraten, kann das seine Autorität so stark beschädigen, dass er am Ende untauglich wird für seine wichtigste Funktion: für seine Rolle als Kriegspräsident, der die Nation nicht nur durch Führungskraft eint, sondern auch durch persönliche Integrität.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Es war deshalb richtig, dass Bundeskanzler Friedrich Merz und die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, nach dem Schlag gegen NABU und SAP ein ernstes Wort mit Selenskyj gesprochen haben. Deutschland und die EU sind nach dem Teilausfall der USA die wichtigsten Verbündeten der Ukraine, und wenn sie es wollen, können sie Selenskyj unter Druck setzen. Sie haben dabei zwei Hebel: Europas Einladung zum Beitritt und Europas Geld.
Was die Einladung betrifft, ist der Aufnahmeprozess zwar im Gang, er hängt aber von Fortschritten beim Rechtsstaat ab. Er kann verzögert werden, wenn etwa der nächste jährliche Fortschrittsbericht im kommenden Herbst zu kritisch ausfällt.
Das Dilemma der Partner
Auch Europas Geldströme können gedrosselt werden. Die Zahlungen aus der „Ukraine-Fazilität“ der EU, einem Topf mit 50 Milliarden Euro, sind laut Statut an die „Vorbedingung“ eines funktionierenden Rechtsstaats geknüpft.
Allerdings: Wer diese Hilfe sperrt, gerät in ein Dilemma. Er schwächt nicht nur die Verteidigung der Ukraine, er gefährdet auch Menschenleben. Europas Geld nämlich fließt zum großen Teil direkt in den ukrainischen Staatshaushalt. Wenn es ausbleibt, können mitten im russischen Bombenterror Ärzte, Feuerwehrleute, Rettungsdienste und Flugabwehrsoldaten bald nicht mehr bezahlt werden. Am Ende könnte die Ukraine den Krieg verlieren. Neue Flüchtlingsströme und eine Krise der NATO wären die Folge.
Andererseits gilt auch: Das Überleben der Ukraine hängt nicht nur von der Finanzierung ihres Kampfes gegen Russland gab, sondern auch vom Erfolg ihres Ringens um eine rechtsstaatliche Demokratie. Dass sie sich bis heute behaupten kann, liegt daran, dass eine Mehrheit nach wie vor daran glaubt, dass Opfer sinnvoll sind. Dass der Kampf gegen das russische Modell auch im Inneren gewonnen werden kann. Wenn der eigene Präsident diese Hoffnung schwächt, untergräbt das die Kampfmoral. Für sein Land ist das eine größere Gefahr als dosierter Druck aus Berlin und Brüssel.