Migration: Der Wirtschaft fehlen die Flüchtlinge

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Es ist gerade drei Jahre her, da war die Aufregung um das Thema groß. Die Ampelregierung hatte im Frühjahr 2022 alle verbliebenen Corona-Beschränkungen sehr plötzlich aufgehoben, auf einmal wollten die Leute wieder ins Flugzeug steigen, im Hotel übernachten, ins Restaurant gehen. Aber das nötige Personal fehlte überall, fast von einem Tag auf den anderen. Auf manchen Flughäfen warteten die Leute stundenlang an den Gepäckbändern, die Gastronomie verkürzte ihre Öffnungszeiten, die Übernachtungsbetriebe strichen ihren Zimmerservice zusammen. Auf einen möglichen Mangel an Fachkräften war man in Zeiten des demographischen Wandels schon vorbereitet gewesen. Aber dass es jetzt vor allem in Bereichen klemmte, für die es keine komplizierte Ausbildung braucht, das überraschte viele dann doch.

Dass sich die Sache dann wieder entspannte, hatte viel mit den Flüchtlingen aus den Jahren 2015 und 2016 zu tun. Es dauert im Schnitt rund sechs bis acht Jahre, bis Asylbewerber in eine reguläre Beschäftigung kommen, sagen Arbeitsmarktforscher. Dieser Zeitraum war jetzt abgelaufen, und so passten Angebot und Nachfrage ganz gut zusammen. Wer mit offenen Augen durchs Land ging, der sah jetzt noch mehr als in den Jahren zuvor Servicekräfte, die einst etwa aus Syrien eingewandert waren. Dass von dort nicht bloß Ärzte kamen, zählte nun nicht mehr als Argument: Deutschland brauchte solche weniger qualifizierten Beschäftigten teilweise mehr als Mediziner.

Nun sind sich Politik und Wissenschaft einig, dass die Aufnahme von Geflüchteten aus humanitären Gründen nicht die ökonomisch effizienteste Form der Einwanderung darstellt. Zwar liegt die Erwerbsquote der männlichen Neuankömmlinge von 2015/16 heute höher als im Schnitt der ansässigen Bevölkerung, wenn es sich teils auch nicht um einen existenzsichernden Vollzeitjob handelt. Aber es hat eben einige teure Jahre gedauert, bis sie in diese Jobs hineinwuchsen.

Trotzdem stellen sich Unternehmen und Arbeitsmarktforscher die bange Frage, wo eigentlich die dringend benötigten Kräfte für einfachere Tätigkeiten herkommen sollen, wenn der Plan der schwarz-roten Regierung aufgeht und die Zahl der Asylbewerber in Deutschland tatsächlich stark zurückgeht.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Denn eine Möglichkeit, ohne den Umweg über Sozialleistungen und Bürgergeld in Deutschland eine Beschäftigung aufzunehmen, gibt es für Geringqualifizierte nach jetzigem Stand nicht. Zwar hat die Ampelregierung das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz vor zwei Jahren reformiert und manche Hürden gesenkt, in dem neu eingeführten Punktesystem spielt aber die berufliche Qualifikation nach wie vor eine entscheidende Rolle.

Die „Westbalkanregelung“ gilt als Erfolgsmodell

Einzige Ausnahme sind die Staaten des westlichen Balkans, also Albanien, Bosnien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Hier genügt die Vorlage eines Arbeitsvertrags mit einer deutschen Firma, die Anerkennung einer bestimmten beruflichen Qualifikation ist nicht nötig. Im Gegenzug gibt es zunächst nur eingeschränkten Zugang zu deutschen Sozialleistungen. Die „Westbalkanregelung“ gilt als Erfolgsmodell. Fast niemand aus diesen Ländern stellt noch einen Asylantrag, um nach Deutschland zu gelangen, und auch nach Jahren noch sind 98 Prozent der Eingereisten erwerbstätig.

Die schwarz-rote Regierung hat allerdings in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass statt zuletzt 50.0000 nur noch 25.000 Personen pro Jahr auf diesem Weg kommen dürfen. Das mag aufgrund der ohnehin rückläufigen Bewerberzahlen zu verschmerzen sein, daraus spricht aber vor allem eine Sorge: Zuerst müsse das heimische Erwerbslosenpotential ausgeschöpft werden. Schon während des Arbeitskräfteschocks der Nach-Corona-Zeit verwies der heutige Unions-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn darauf, dass damals immerhin 2,5 Millionen der 18- bis 34-Jährigen keinen beruflichen Abschluss hatten. Die gelte es erst einmal zu qualifizieren.

Qualifikation allein löst das Problem nicht

Der Punkt ist nur: Qualifikation allein löst das Problem nicht. Unter Umständen verschärft sie es sogar, weil sie das Arbeitskräftepotential für die so dringend benötigten Aushilfstätigkeiten weiter verringert. Nach einer neuen Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom Mai ist die Zahl der Beschäftigten in diesen einfachen Bereichen während des zurückliegenden Jahrzehnts um 1,1 Millionen oder 23,1 Prozent gestiegen, fast so stark wie die Zahl der Spezialisten und Experten (30,6 und 31,9 Prozent). Das mittlere Segment der Fachkräfte wuchs hingegen nur um 3,3 Prozent.

„Wir sehen auf dem Arbeitsmarkt eine wachsende Polarisierung, die größten Zuwächse gibt es neben den akademischen Berufen bei einfachen Helfertätigkeiten“, sagt IAB-Experte Herbert Brücker. „Da geht es um manuelle Arbeit, die sich schlecht automatisieren lässt.“ Von den erwerbstätigen Geflüchteten arbeiteten 45 Prozent in diesem Bereich. „Das würde uns ohne Asyl­migration im Arbeitsmarkt fehlen.“

Es könnte sogar kontraproduktiv sein, immer mehr Leute in Ausbildungsberufe zu schicken, die dem technologischen Wandel womöglich gar nicht mehr standhalten. Es scheint, als hätten die Schulabgänger das schon begriffen. Nach einer gerade erst veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung will eine wachsende Zahl von Absolventen lieber erst einmal arbeiten, statt eine Ausbildung zu machen: Unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit niedriger Schulbildung trifft das auf 25 Prozent zu, unter denen mit höherem Abschluss immer noch auf 16 Prozent. Als Motiv nannten viele von ihnen die geringen Ausbildungsvergütungen, die mit den gestiegenen Löhnen auch schon für einfache Tätigkeiten weniger denn je mithalten können.

Weniger Arbeitskräfte aus Osteuropa

Aber die wachsende Beliebtheit solcher einfachen Jobs gerade auch unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund löst den Mangel langfristig nicht auf. So berichtet der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport zwar, den Personalmangel des Jahres 2022 inzwischen auch mit Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern im Süden und Osten behoben zu haben. Es lässt sich aufgrund der demographischen Entwicklung in diesen Staaten allerdings absehen, dass diese Quelle an Arbeitskräften versiegt.

So geriet das Nachbarland Polen selbst in Schwierigkeiten, als nach dem russischen Überfall viele männliche Arbeitskräfte aus der Ukraine in ihr Herkunftsland zurückkehren mussten. Und Länder wie Bulgarien oder Rumänien, aus denen zuletzt viele Arbeitsmigranten kamen, leiden selbst unter starkem Bevölkerungsschwund. So erstaunt es kaum, dass im vorigen Jahr mehr Leute aus anderen EU-Ländern aus der Bundesrepublik weg- als zuzogen. Und der Versuch, in der Krise von 2022 kurzfristig Kräfte aus der Türkei anzuwerben, scheiterte kläglich.

„Wir brauchen Regeln für die Arbreitsmgration“

Experten und Unternehmen fordern deshalb, auch Beschäftigten aus Ländern außerhalb der EU oder des westlichen Balkans die Aufnahme einer einfachen Tätigkeit in Deutschland zu erleichtern. „Wir brauchen Regeln für die Arbeitsmi­gration in diesem Bereich, zum Beispiel Abkommen mit Ländern, aus denen man mit einem Arbeitsvertrag einreisen kann“, sagt Arbeitsmarktforscher Brücker. Dann würde der Markt entscheiden, nicht die Bürokratie. „Der Abbau der Westbalkanregelung ist der falsche Weg.“

Die betroffenen Branchen schlagen ebenfalls Alarm. Der Logistikkonzern DHL verweist auf seine Rolle als „einer der größten Arbeitgeber für Geflüchtete weltweit“, mehr als 30.000 Geflüchtete hat das Unternehmen seit 2015 eingestellt. „In Anbetracht des zunehmenden Arbeits- und Fachkräftemangels in Deutschland ist es entscheidend, gezielte Erwerbsmigration zu fördern, unter anderem auch für sogenannte Basistätigkeiten“, sagt Personalvorstand Thomas Ogilvie. „Eine gesteuerte Zuwanderung, die mit möglichst wenigen bürokratischen Hürden einhergeht, ist notwendig, um den Bedarf an Fachkräften zu decken und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu sichern.“ Nur durch eine offene und pragmatische Zuwanderungspolitik könne Deutschland die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt zukünftig erfolgreich meistern.

„Wir betrachten Zuwanderung als Teil der Lösung“

Ähnlich sieht es die Gastronomiebranche, neben der Paketzustellung einer der größten Arbeitgeber für Beschäftigte mit geringer formaler Qualifikation. „Neben der Bekämpfung der irregulären Migration bleibt es wichtig, Erwerbsmigration gezielt zu fördern und zu steuern“, sagt Sandra Warden, Geschäftsführerin im Branchenverband DEHOGA. Dabei ausschließlich auf formal qualifizierte Fachkräfte zu setzen, greife zu kurz. „Wenn Unternehmen in Deutschland ausländischen Bewerbern aufgrund ihrer Berufserfahrung oder ihres Gastgebertalents einen ordentlichen Arbeitsvertrag geben und diese ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können, muss das Arbeiten in Deutschland möglich sein.“

Zu den Arbeitgebern, die im zurückliegenden Jahrzehnt viele Geflüchtete einstellten, zählt auch die Deutsche Bahn. Sie mahnt ebenfalls leichtere Verfahren für die Einwanderung in geringer qualifizierte Jobs an. „Jede Einstellung für die operativen Berufe ist für uns wichtig“, sagt eine Sprecherin. „Wir betrachten Zuwanderung als Teil der Lösung.“ Natürlich bedeute das Aufwand. „Umso besser, wenn die Politik und die Bundesagentur für Arbeit und die Gewerkschaften alle an einem Strang ziehen und gemeinsam Rahmenbedingungen klären und vor allem weiter vereinfachen.“ Was man wohl eher als Aufforderung denn als Feststellung verstehen darf.

In vielen Ländern ist der klassische Weg für Geringqualifizierte die irreguläre oder illegale Migration im engeren Sinn des Worts, die es in Deutschland nicht gibt: In Ländern wie Spanien oder den USA ist es seit jeher üblich, dass Einwanderer ohne Papiere etwa als Haushaltshilfe arbeiten, Pflegebedürftige in deren eigenen vier Wänden betreuen oder in der Landwirtschaft aushelfen. Bezahlt wird dann oft in bar, einen Anspruch auf Sozialleistungen gibt es nicht. Mancherorts werden trotzdem anonym Steuern entrichtet. In Deutschland wäre das schwer vorstellbar. Schließlich hält sich ein Flüchtling, der einen Asylantrag gestellt hat, nicht illegal in Deutschland auf. Ohne offizielle Papiere kommt man hierzulande nicht weit.

Spanien will illegalen Einwanderern einen offiziellen Status geben

In den Vereinigten Staaten wird der Anteil der Illegalen an allen Arbeitskräften auf immerhin fünf Prozent geschätzt, das sind acht Millionen Menschen. In einzelnen Branchen wie der Landwirtschaft liegt der Anteil weit höher. In seiner Antrittsrede hatte Präsident Donald Trump vor einem halben Jahr angekündigt, „Millionen und Abermillionen krimineller Ausländer zurückzuschicken“. Angesichts der genannten Zahlen kann er mit „kriminell“ eigentlich nur den illegalen Aufenthalt als solchen gemeint haben. Bisher sind den Worten allerdings keine Taten gefolgt. Von den praktischen Schwierigkeiten solcher Massenabschiebungen abgesehen, könnten ganze Wirtschaftszweige zusammenbrechen. Auf die nachträgliche Legalisierung ihres Status, wie er früher von Zeit zu Zeit erfolgte, können die Betroffenen unter den aktuellen Umständen allerdings nicht hoffen.

Ganz anders sieht die Lage in Spanien aus, wo der sozialdemokratische Premier Pedro Sánchez vorigen Herbst in einer viel beachteten Rede die Vorzüge der Migration herausstrich. Schließlich seien einst zwei Millionen Spanier vor der Franco-Diktatur ins Ausland geflohen, die Hälfte davon illegal, hob der Regierungschef hervor – und kündigte an, dass eine Million illegaler Einwanderer einen offiziellen Status erlangen sollen. Dabei handelt es sich zu einem beträchtlichen Teil um Lateinamerikaner, die ohnehin dieselbe Sprache sprechen. Viele von ihnen, so hob er hervor, übten prekäre, aber gesamtwirtschaftlich wichtige Tätigkeiten aus, etwa in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Gastronomie.

Zuletzt hat auch die italienische Regierung unter der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni angekündigt, 500.000 Arbeitsmigranten ins Land lassen zu wollen – auch hier mit einem Schwerpunkt auf einfachen Tätigkeiten etwa in der Landwirtschaft. In Deutschland bräuchte es dafür wohl erst wieder eine Krise wie 2022.