Im estnischen Narwa liegen die Evakuierungspläne bereit

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Von einem der schönsten Aussichtspunkte Narwas schaut Bürgermeisterin Katri Raik erschrocken hinunter auf den Fluss und ruft: „Was ist denn hier los?“ Dann verabschiedet sie sich schnell. „Ich muss mich mit der Polizei treffen und das klären.“ Im Hintergrund leuchtet die Hermannsfeste, das Wahrzeichen der Stadt, in der Morgensonne.

Im Tal aber ist die Narwa über Nacht so stark angestiegen, dass der auf einer Flussinsel liegende Stadtstrand samt Brücke in den Fluten verschwunden ist. Ob das „nur“ Hochwasser oder wieder eine russische Provokation ist? Am anderen Ufer liegt die Stadt Iwangorod, auf der gleichnamigen Festung weht weithin sichtbar die russische Flagge. Die Behörden dort haben die Verfügungsgewalt über das Wasserkraftwerk am oberen Flusslauf und über Nacht offensichtlich die Schleusen geöffnet.

Später stellt sich heraus, dass die russische Seite Narwas Stadtverwaltung zwar unmittelbar vor der Öffnung informiert hat. Doch es war zu spät, um noch Vorkehrungen zu treffen. Jetzt hat die Polizei den Bereich abgesperrt. Heute wird es keinen Badetag geben, weder für die Schulkinder, die in Estland drei Monate Sommerferien haben, noch für Touristen, von denen immer mehr hierherkämen, wie Raik zuvor erzählt hatte. Ihre Stadt, die größte russischsprachige und östlichste der EU, sei für viele zu einem Besuchsziel geworden. Erst recht, seit sie in Szenarien als Ort genannt wird, an dem Wladimir Putin die NATO testen könnte. Unter dem Vorwand, russischsprachige Bürger zu schützen, könnte er Narwa besetzen und dann abwarten, ob die Mitgliedstaaten der NATO überhaupt bereit wären, „wegen so einer kleinen Stadt“ einen Konflikt mit Moskau zu riskieren.

Über das Szenario werde in Narwa kaum gesprochen, sagt Raik. „Alle vernünftigen Menschen haben natürlich etwas Angst, aber als Historikerin sage ich: Der Krieg beginnt dort, wo es niemand vermutet.“ Doch sei man als Stadt nicht blauäugig. Mehrfach schon hat Putin Estland als „historisch russisches Gebiet“ bezeichnet. Peter der Große, den Putin als ein Vorbild nennt und von dem er erklärte, dieser habe „nichts genommen, er hat es zurückgeholt“, eroberte Narwa Anfang des 18. Jahrhunderts. Im vergangenen Jahr entfernten russische Soldaten die Bojen im Narwa-Fluss, die die Grenze zwischen Russland und Estland und damit der EU markierten. Die EU verurteilte die Provokation, aber die Bojen blieben verschwunden.

Evakuierungspläne liegen bereit

Wenn Raik mit Gästen wie neulich dem dänischen Außenminister auf dem Fluss bis zur Ostsee fährt, begleite sie ein russisches Grenzboot. „Die kommen ganz nah ran, um zu zeigen, dass sie Macht haben.“ Raik zuckt mit den Schultern. Sie lasse sich davon nicht beeindrucken. „Das ist unser Land, hier können wir machen, was wir wollen“, sagt sie. „Und wenn wir Schiff fahren wollen, dann fahren wir Schiff.“ Zugleich bereite man sich auf den Ernstfall vor. Der Kaitseliit, der Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte, und die städtischen Rettungsdienste probten längst gemeinsam, auch habe die Stadt Evakuierungspläne erstellt.

Dann klingelt Raiks Handy, die Bildungsministerin ist dran. Es geht um Fördermittel für eine neue Sporthalle, die Narwa bauen will. Raik, 58 Jahre alt und Sozialdemokratin, war selbst mal für einige Monate Innenministerin. In Estland leben nur 1,3 Millionen Menschen, die Wege sind kurz, man kennt sich. Mit 52.000 Einwohnern ist Narwa die drittgrößte Stadt des Landes. Rund die Hälfte der Menschen, die in Narwa leben, sind Esten, gut ein Drittel Russen und der Rest Inhaber sogenannter grauer Pässe. Letztere sind ethnische Russen, die nach der Unabhängigkeit des Landes keine estnische Staatsbürgerschaft erhalten haben. Aber 95 Prozent der Einwohner Narwas sprechen im Alltag Russisch. Raik sagt, sie sei die einzige Abgeordnete im Stadtrat, deren Muttersprache Estnisch sei.

Bürgermeisterin Katri Raik
Bürgermeisterin Katri RaikStefan Locke

Wegen dieser Gemengelage gilt Narwa als prorussisch. Alexej Iwanow sagt, das sei Unsinn. „Es ist ein von außen projiziertes Bild.“ Iwanow ist 42 Jahre alt und Journalist bei der „Gazeta“, der ältesten Tageszeitung Narwas, die auf Russisch erscheint. Er läuft am Mittag durch eine Einkaufsstraße und einen gepflegten Park hinunter zum Fluss und macht Fotos von der Flut. Seit Narwa als Ziel Putins gilt, kommen Reporter aus aller Welt – „leider oft schon mit vorgefertigtem Bild“. Die Stadt sei zu einem Symbol geworden für die Konfrontation zwischen Ost und West; die Lage mit den am Fluss gegenüberliegenden Festungen bilde das beinahe perfekt ab. Häufig hört Iwanow ähnliche Fragen an die Menschen hier: „Wie fänden Sie es, wenn Russland Ihre Stadt annektiert?“ oder „Was halten Sie von Putin?“

Die meisten Einwohner reagierten darauf eher zurückhaltend, sagt er. Manche Reporter seien dann enttäuscht. Einmal war er mit einer Dame vom schwedischen Fernsehen den halben Tag unterwegs, bis sie auf eine alte Frau trafen, die stadtweit als leicht verrückt gilt. Sie sagte ins Mikrofon, dass Putin in allem recht habe und sie sehr darauf warte, „dass er uns endlich befreit“. Direkt danach habe die Kollegin eingepackt, erzählt Iwanow. „Der Satz war alles, was sie brauchte.“ So einfach aber sei die Lage nicht, wie er an seinem eigenen Beispiel schildert.

Estnisch ist alleinige Unterrichtssprache

Iwanow ist estnischer Staatsbürger, aber „im Herzen bin ich Russe“. Sein Vater lebt in Russland. „Trotzdem bin ich loyal gegenüber meinem Land, habe Wehrdienst geleistet und lebe gern hier.“ Er nehme sich aber auch die Freiheit zur Kritik. Dass das Parlament zum Beispiel im vergangenen Jahr Estnisch als alleinige Unterrichtssprache beschlossen hat, hält er für falsch. Es gebe einfach viele Familien, in denen nur Russisch gesprochen werde, und zudem gar nicht genug Lehrer, die Estnisch sprächen. Lehrer, die ausschließlich Russisch sprechen, aber seien entlassen worden. „Das war alles überstürzt.“ Es bringe die russischsprachige Bevölkerung unnötig gegen den Staat auf, mache sie aber deshalb nicht gleich zu Apologeten Putins.

Dass hier vor allem Russlandfreunde lebten, sei ein Kurzschluss, sagt auch Bürgermeisterin Raik. Sie selbst stammt aus Tartu und hat in Narwa ihre zweite Heimat gefunden. „Die meisten Leute hier sind nicht prorussisch, sondern eher pro-Vergangenheit.“ Das ist ähnlich wie in vielen Orten und Ländern der einst sozialistischen Staaten Europas inklusive Ostdeutschlands. Früher lebte Narwa vor allem von der Textilindustrie, die nach dem Ende der Sowjetunion verschwand. Mehr als 30.000 meist junge Menschen haben die Stadt seitdem verlassen. Zurück blieben Ältere, die sich fragen, welche Zukunft es an diesem Ort noch gibt und die obendrein ihre Jugendzeit im ­Sozialismus verklären, in der vieles so unkompliziert und geregelt schien.

Frust über Tallinn und Brüssel

Nach der Totalzerstörung im Zweiten Weltkrieg kamen viele junge Leute nach Narwa. Die Stadt galt als eine der jüngsten des Landes. „Bis 1978 hatten wir nicht mal einen Friedhof“, sagt Raik. „Es war eine Stadt wie eine Diskothek.“ Der Strukturwandel nach dem Ende der sowjetischen Besatzung traf Narwa hart. Geblieben ist die Ölschieferförderung mit ein paar Hundert Jobs, doch auch deren Tage sind gezählt. Daran seien die EU und der „Green Deal“ schuld, sagen die Leute. Der Frust über „die in Tallinn und die in Brüssel“ sitzt tief. Die Arbeitslosenquote liegt bei 14 Prozent, doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Viele Menschen hier fühlen sich weit weg von den Entscheidungszentren, nicht gehört und übersehen. „Alle schimpfen auf den estnischen Staat“, sagt Raik. „Nach Russland ziehen will deshalb noch lange keiner.“

Narwa war lange auf einem guten Weg, aus seiner Lage zwischen EU und Russland etwas zu machen. Die Leute hätten sich als Einwohner einer Brückenstadt gesehen, als Tor zur EU und zu Russland, sagt Raik. „Wir hatten das Gefühl: Ohne uns geht nichts.“ Menschen aus Russland und Belarus siedelten sich an, auch russische Unternehmen, die Zugang zum EU-Markt suchten. Die Grenze zu passieren war leicht, selbst nach dem EU-Beitritt Estlands 2004. Man besuchte Verwandte, kaufte ein, manch einer lebte vom Benzin- und Zigarettenschmuggel. Mit der Stadtverwaltung auf russischer Seite funktionierte der Austausch gut, es gab gegenseitige Besuche, die Uferpromenaden bauten beide Seiten gemeinsam aus.

Geblieben ist davon: nichts. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine gebe es keinerlei Kontakt mehr. „Die Grenze ist wie eine dicke Wand, die wir nicht sehen“, sagt Raik. „Hier trennen sich zwei Welten.“ 2024 schloss Russland den Übergang für Fahrzeuge, offiziell wegen Bauarbeiten. Seitdem geht es nur zu Fuß auf die andere Seite. Am Kontrollpunkt im Stadtzentrum stehen Menschen in einer langen Schlange und warten auf Einlass in das Abfertigungsgebäude. Den Weg hinunter zum Fluss und über die Grenzbrücke nach Russland, rund anderthalb Kilometer, müssen sie zu Fuß gehen. Am vorderen Ende sagt eine Frau mit zwei Kindern und großen Taschen, dass sie ihre Mutter in Russland besuchen wolle und seit fünf Stunden warte.

Russland und Estland beschuldigen sich gegenseitig, die Verzögerungen zu verantworten. Die russische Seite habe von sechs Kontrollpunkten nur einen für aus Estland Einreisende geöffnet, sagt Eerik Purgel, Chef der estnischen Grenzschutzbehörde Ost. Er steht auf der Grenzbrücke, die nach wie vor „Brücke der Freundschaft“ heißt. Auf der Fahrbahn liegen vier Reihen Beton-Drachenzähne, vor die jeweils Stacheldraht gespannt ist. Was wie eine Panzersperre wirkt, diene dem Schutz vor Migranten, sagt Purgel. Russland habe auch hier versucht, Flüchtlinge aus Zentralasien und Afrika über die Grenze zu treiben. Schnell ausgelegten Stacheldraht hätten sie einfach beiseitegeschoben. Jetzt ist er an die Drachenzähne geheftet und nicht zu überwinden.

Grenzschützer Eerik Purgel vor der Hermannsfeste
Grenzschützer Eerik Purgel vor der HermannsfesteStefan Locke

Purgel hat die Versuche selbst erlebt. Mehrfach sei Migranten von russischen Grenzern gesagt worden, was sie auf estnischer Seite rufen sollen, um nicht abgewiesen zu werden. „Wir haben sie gar nicht erst über die Brückenmitte gelassen.“ In letzter Zeit habe es keine Versuche mehr gegeben. Purgel ist 44 Jahre alt und seit sechs Jahren hier im Grenzdienst, vor zwei Jahren wurde er Chef. Als er anfing, sei schnelle Abfertigung das Wichtigste gewesen. 4,5 Millionen Menschen passierten damals im Jahr die Grenze, heute seien es noch etwa eine Million. Gut die Hälfte davon seien Russen, unter ihnen viele, die in Finnland lebten. Das Land hat wegen der hybriden Angriffe Russlands alle Übergänge geschlossen, jetzt reisen die Menschen via Narwa.

Grenzer setzen EU-Sanktionen durch

Für die Grenzer bedeute das deutlich mehr Arbeit, sagt Purgel. „Wir müssen viel genauer sein, um nicht infiltriert zu werden.“ Nach Russlands Überfall auf die Ukraine seien hier täglich rund 300 Ukrainer über die Grenze gekommen. Angeblich alle aus den besetzten Gebieten, doch hätten sich auch prorussische Kräfte daruntergemischt, die auf diesem Weg in die EU wollten. Die haben aufwiegeln, spionieren, Anschläge begehen sollen, sagt Purgel. Er mache sich da keine Illusionen.

Estland reagiert auf solche Versuche wegen der jahrzehntelangen Besatzung durch die Sowjetunion besonders sensibel. Umgekehrt setzen die Grenzer auch die EU-Sanktionen durch. „Zu hundert Prozent.“ Jeder nach Russland Reisende werde einzeln durchsucht. Nicht mitgenommen werden dürfen etwa Euro-Bargeld, sensible Elektronik, teurer Wein.

Auch das verlängert die Grenzpassage erheblich. Alexej Iwanow hat neulich eine Umfrage unter Grenzgängern gemacht. Manche hätten zwölf Stunden gewartet. Früher, also vor dem Krieg, war Narwa eher ein Durchgangsort auf dem Weg nach Sankt Petersburg, sagt er. Die Stadt ist näher als die estnische Hauptstadt Tallinn. Viele Einwohner fuhren am Wochenende nach Russland und umgekehrt. Der Krieg hat all das zunichte gemacht. Iwanow ist in Narwa aufgewachsen, hat längere Zeit in Irland gelebt und kehrte vor einigen Jahren in seine Heimat zurück. Er mag das Bodenständige und Unaufgeregte hier. Eine Invasion hält er für unwahrscheinlich. „Warum sollten sie ausgerechnet an der breitesten Stelle des Flusses angreifen?“, fragt er. „Wir sprengen einfach die Brücke, und dann war’s das.“

Der Journalist Alexej Iwanow
Der Journalist Alexej IwanowStefan Locke

Iwanow führt am Flussufer entlang Richtung Norden ein Stück aus der Stadt hinaus. Hier stehen einfache Holzhäuser, in den Gärten blühen Flox und Mohn. Dann stehen wir plötzlich auf einer Lichtung, die übersät ist mit Steinkreuzen. Rund 15.000 deutsche Soldaten sind hier bestattet, die im Krieg fielen oder in Kriegsgefangenenlagern starben. Auf Tafeln sind viele ihrer Namen eingraviert. Er habe das nur mal zeigen wollen, sagt er. So einfach erobern lasse sich Narwa nicht.

Über den aktuellen Krieg in der Ukraine werde jedoch kaum gesprochen, sagt Iwanow. Viele mieden allein schon das Wort Krieg, berichtet auch Katri Raik. Stattdessen sprächen die Leute von „dieser Sache da“ oder „dem, was passiert ist“ – ganz so, als sei es ihnen peinlich. „Die meisten hier glauben einfach nicht, dass Russland auch uns angreifen könnte“, sagt Oleg Garašin. „Das liegt auch an der russischen Propaganda.“ Die Leute guckten russische Fernsehsender, in denen ihnen zudem täglich erzählt werde, wie sehr Estland und die EU sie unterdrückten. In ihrem Alltag erlebten sie oft das Gegenteil, manchmal aber auch – wie im Fall der verbannten russischen Sprache aus dem Unterricht – scheinbar Bestätigung. Das führe zu erheblicher Ambivalenz.

Oleg Garašin ist Kandidat bei den Stadtratswahlen in Narwa
Oleg Garašin ist Kandidat bei den Stadtratswahlen in NarwaStefan Locke

„Viele sind trotz aller Probleme stolz, Teil Estlands zu sein“, sagt Garašin. Er kenne niemanden, der lieber in Russland leben wolle. Garašin ist 25 Jahre alt, studiert Internationale Beziehungen und gibt in den Semesterferien Schulkindern Nachhilfe in Estnisch – und daheim auch seiner Mutter. Aufgewachsen ist er in einer russischsprachigen Familie, und er spricht wie viele junge Esten tadelloses Englisch.

Als Treffpunkt hat er ein Café im Zentrum vorgeschlagen. Hier wird viel gebaut, Straßen werden saniert, Häuser gedämmt, ein Gymnasium errichtet. Vieles davon mit EU-Geld. Er wünsche sich, dass seine Stadt eine Zukunft in Europa habe, sagt er. „Aber ich fühle mich von Russland bedroht, und seit Trump an der Macht ist, mehr denn je.“

Ob die NATO Estland im Ernstfall wirklich zu Hilfe kommt, beschäftigt den jungen Mann sehr. Im Grunde sei man doch nackt – ein kleines Land in geographisch schlechter Lage mit einer winzigen Armee, sagt er. Er selbst hat seinen Wehrdienst als Rettungssanitäter abgeleistet. Wenn es hart auf hart kommt, sei er bereit, sein Land zu verteidigen. „Ich bin nicht sehr besorgt“, sagt dagegen Eerik Purgel, der Grenzpolizist. Estlands Militär, Geheimdienst und Polizei wüssten ziemlich gut Bescheid, was Russland plane. Man sei gut darauf vorbereitet. „Ein Angriff würde keine Überraschung sein. Leider haben es die Ukrainer damals nicht geglaubt.“ Dann dreht er sich auf der Grenzbrücke um, schaut über den Fluss hinüber nach Russland und sagt: „Wir wollen doch nur in Frieden leben. Lasst uns das einfach tun.“