In der Causa Frauke Brosius-Gersdorf sind viele Fragen aufgeworfen worden, auch die nach der Haltung und der Kohärenz der CSU. Vor der avisierten Wahl der Juristin nach Karlsruhe hatte CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann an die Unionsabgeordneten appelliert, den Vorschlag der SPD trotz kritischer Stimmen mitzutragen. Als die Wahl von Brosius-Gersdorf bereits abgeblasen war, zollte ihr Michael Frieser, ehemals Justiziar der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Respekt, dass sie ungeachtet der Kritik an ihrer Person an der Bewerbung festhalte. Ihre Positionen seien schwierig, aber nicht unvermittelbar.
Ganz anders äußerte sich wenig später CSU-Chef Markus Söder. Er rief die SPD dazu auf, jemand anderen für das Amt vorzuschlagen. „Auf der umstrittenen Kandidatur liegt und lag kein Segen“, sagte Söder am Montag nach der abgesetzten Wahl.
Nachdem tags darauf Brosius-Gersdorf in der Sendung „Markus Lanz“ klargemacht hatte, nicht um jeden Preis an ihrer Kandidatur festhalten zu wollen, legte ihr Alexander Dobrindt, als Innenminister auch Verfassungsminister und nach wie vor der CSU-Mann, bei dem in Berlin die Fäden zusammenlaufen, den Rückzug nahe: „Als Bewerberin für eine Position im Verfassungsgericht hat man wohl kaum die Intention, die Polarisierung in der Gesellschaft weiter zu befördern.“
Es folgte die unter anderem auf Söder und Dobrindt gemünzte Empfehlung des früheren CSU-Chefs Erwin Huber, „mal das Maul zu halten“, die allerdings von Landesgruppenchef Hoffmann in den Wind geschlagen wurde. Er regte an, ein weiteres Personalpaket zu schnüren, das aus komplett neuen Namen bestehen könne – „muss aber nicht“.
Wie die Union es vergeigt hat
Was ist da los in der CSU? Nach Darstellung von Insidern dürfte die Sache vonseiten der Union etwa so vergeigt worden sein: Jens Spahn, der neue Fraktionschef, war wegen der Masken-Affäre zu beschäftigt, um sich eingehender mit der Besetzung von Richterposten und den Befindlichkeiten der etwa 60 Neuen unter seinen Abgeordneten zu beschäftigen. Er machte der SPD die Zusage, Brosius-Gersdorf mitzutragen. Hoffmann wiederum wollte die Zusammenarbeit nicht gleich dadurch belasten, dass er seinem Pendant in den Rücken fiel.
Überhaupt hat der noch nicht so erfahrene Hoffmann genug damit zu tun, die neue CSU-Landesgruppe in den Griff zu bekommen. Thomas Silberhorn, CSU-Justiziar im Fraktionsvorstand und angeblich unglücklich darüber, dass Söder ihn nicht zum Minister gemacht hat, soll vorab mit CDU-Justiziar Ansgar Heveling Brosius-Gersdorf in Augenschein genommen haben. Im persönlichen Gespräch soll er aber mehr Interesse an seinen eigenen juristischen Einschätzungen als an denen der Professorin gezeigt haben.
Dann fielen die Würfel plötzlich anders
Unterdessen nahmen CSU-Abgeordnete in Berlin wie in München zusehends wahr, was sich medial aufbaute und dass plötzlich Leute agitatorische Textnachrichten schickten, die schon jahrelang nichts mehr von sich hatten hören lassen. Als dann noch Vertreter der Kirche, denen Söder erst vor ein paar Monaten vorgeworfen hatte, sie kümmerten sich nicht mehr um genuin christliche Themen wie den Schutz des ungeborenen Lebens, in den Chor der Kritiker von Brosius-Gersdorf einstimmten, waren die Würfel im Grunde gefallen.
Es gab nicht viele in der CSU, die sich bis dahin eingehender mit den Positionen Brosius-Gersdorfs beschäftigt hatten. Die, die es taten, kamen allerdings überwiegend zum selben Ergebnis wie die mit nur diffusem Störgefühl: äußerst schwer vermittelbar. Einer, der nicht im Verdacht steht, die Dinge nicht zu durchdringen, ist der Politikwissenschaftler Hans Maier, langjähriger Kultusminister von der CSU und ehemals Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Er, der einst die Kirche für den Ausstieg aus der Schwangerenkonfliktberatung kritisiert hatte, äußerte gegenüber der F.A.Z.: „Frau Brosius-Gersdorf will die auf Böckenförde zurückgehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Paragraph 218, wonach die Menschenwürde (1 GG) und das Lebensrecht (2 GG) auch für Ungeborene gelten, total aufheben beziehungsweise ins Gegenteil verkehren. Ihre Behauptung, dass mit der Tötung des ungeborenen Kindes kein ,Unwerturteil‘ verbunden sei, empfinde ich als reinen Zynismus.“
Klaus Holetschek, Chef der CSU-Landtagsfraktion, äußerte gegenüber der F.A.Z.: „Der Schutz des ungeborenen Lebens und die Unantastbarkeit der Menschenwürde gehören zur DNA der CSU. Oft wurden wir gefragt, was aus dem ,C‘ im Parteinamen geworden ist. Und jetzt, wo wir uns klar dazu bekennen, soll es auch wieder nicht recht sein?“
Wo ist der Ausweg?
Freilich sucht man auch in der CSU nach einem Ausweg aus der Krise, die sie mitzuverantworten hat. Zum Beispiel wird darauf verwiesen, dass das alles gar kein großes Ding sei und die SPD sich nicht so haben solle, schließlich sei ja auch schon einmal einem CSU-Mann die Kandidatur für Karlsruhe zerschossen worden: Winfried Bausback, einem ehemaligen bayerischen Justizminister. Verschwiegen wird dabei gern, dass er nicht vom politischen Gegner, sondern von den eigenen Leuten in Berlin mit zweifelhaften Mitteln verhindert wurde, weil die sich keinen Mann aus München vorsetzen lassen wollten.
Andere beteuern, man verstehe menschlich, dass Brosius-Gersdorf sich im Fernsehen verteidigt habe – aber das vertrage sich natürlich ganz schlecht mit der Würde des Verfassungsrichteramts. Wieder andere versuchen, Brosius-Gersdorf eine goldene Brücke zum Rückzug zu bauen. Sie heben hervor, sie sei eine „hervorragende Wissenschaftlerin“ (vulgo: solle dies gerne bleiben) – gerade so, als könnten sie, die vor ein paar Wochen den Namen noch gar nicht kannten, jetzt ihr Œuvre überblicken.