Der frühere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher hatte am Montag in der Bundespressekonferenz postum einen großen Auftritt. Gleich mehrfach zitierte der stellvertretende Regierungssprecher Sebastian Hille einen Satz, der Schumacher zugeschrieben wird: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit.“ Es gehe nicht um das, was wünschenswert sei, sondern um das, was machbar sei, fügte Hille hinzu. Im Handelskonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und der EU sei das Machbare jene Vereinbarung, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der amerikanische Präsident Donald Trump am Sonntagabend im schottischen Turnberry präsentiert hatten. Diese Vereinbarung sei zu begrüßen. „Eine Einigung zu haben, ist besser, als keine Einigung zu haben“, sagte Hille. Keine Frage, niedrigere Zölle wären besser gewesen. Aber man müsse eben die Realitäten anerkennen.
Die Realität in der Handelspolitik ist eine, für die Volkswirte das Wort „asymmetrisch“ verwenden. Der Zollsatz für Exporte aus der EU in die USA beträgt künftig 15 Prozent. Die EU senkt dagegen ihren Zollsatz für Importe aus den USA für die meisten Produkte auf null. Zudem verpflichtet sie sich, für dreistellige Milliardenbeträge Energie und Waffen in Amerika zu kaufen und dort zu investieren. Zwar sind die von Trump angedrohten Importzölle von 30 Prozent erst mal vom Tisch. Davon abgesehen hat sich der amerikanische Präsident im Handelskonflikt zwischen den beiden großen westlichen Wirtschaftsräumen aber weitgehend durchgesetzt. Vom „größten Deal aller Zeiten“ spricht Trump. Die EU-Kommission muss sich fragen lassen, wie es dazu kommen konnte. War es Trumps Dampfwalzendiplomatie? Eine schwache Verhandlungsführung vor allem von EU-Handelskommissar Maroš Šefčovič? Oder – wieder einmal – die Uneinigkeit der EU-Staaten untereinander?
Šefčovič: Verhandlungen mit Trump „extrem schwierig“
„Sie glauben mir vielleicht nicht, aber Sie waren bei den Verhandlungen auch nicht dabei. Ich schwöre Ihnen, die Gespräche mit Donald Trump waren extrem schwierig.“ Mit diesen Worten beantwortete Maroš Šefčovič bei einer Pressekonferenz am Montag die Frage eines Journalisten, ob das Zollabkommen mit den Vereinigten Staaten ein guter Deal oder nur Schadensbegrenzung sei. „Noch am Sonntagabend standen wir bei Zöllen von 30 Prozent. Deshalb ist dieser Deal ein sehr guter Deal für die EU“, befand Šefčovič. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klang am Sonntagabend nach ihren Gesprächen mit Trump ähnlich. In den „sehr harten“ Verhandlungen mit Trump habe sie das Bestmögliche herausgeholt. Šefčovič fügte noch hinzu, ohne den Deal wäre es zu einem „Zollkrieg“ gekommen, der fünf Millionen Arbeitsplätze in der EU gefährdet hätte.
Der Versuch der Schadensbegrenzung hatte sich schon vor den Gesprächen von der Leyens in Trumps Golfhotel in Schottland angedeutet. Während der Präsident dort über seinen „besten Golfplatz der Welt“ schwadronierte und über die in der Nähe stehenden „umweltzerstörenden“ Windräder schimpfte, zeigte sich schon in der Körpersprache der kaum zu Wort kommenden Kommissionspräsidentin, dass sie Trump vor allem nicht provozieren und den sich da bereits abzeichnenden Deal nicht noch gefährden wollte.
Klar ist: Auch wenn die EU-Kommission allein für die Handelspolitik und damit auch für die Verhandlungen mit den Amerikanern zuständig ist, hängt sie immer von der Unterstützung aus den Hauptstädten ab. Vor allem zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der EU gab es über lange Phasen der Verhandlungen jedoch einen Dissens darüber, wie die EU auf die trumpschen Zolleskapaden reagieren sollte.
Merz als „Good Cop“, Macron als „Bad Cop“
Anfang April hatte der amerikanische Präsident im Rosengarten des Weißen Hauses einen Basiszoll von 20 Prozent auf Waren aus der EU verhängt, diesen dann auf 10 Prozent gesenkt, um zuletzt mit 30 Prozent zu drohen. Während Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Brüssel gewissermaßen als „bad cop“ für eine harte Gangart mit Gegenzöllen und Einschränkungen für die amerikanischen Digitalkonzerne in Europa warb, gab der deutsche Kanzler Friedrich Merz den „good cop“. Er hoffte darauf, dass er (und die zeitweise parallel mit verhandelnden Autohersteller) Trump von seinen Plänen schon würden abbringen können.
Erst in der vergangenen Woche, als der von Trump gesetzte Stichtag 1. August immer näher rückte und Merz und Macron in der Villa Borsig in Berlin Klausur hielten, schwenkte Merz auf die Linie von Macron ein. Womöglich zu spät, wie Kritiker der deutschen Verhandlungstaktik in Berlin nun monieren. In Frankreich wurde die deutsch-französische Annäherung vergangene Woche regelrecht gefeiert. Inzwischen aber fragen sich französische Beobachter, ob das Zugeständnis des Bundeskanzlers nicht der Tatsache geschuldet war, dass Merz längst in den Deal eingeweiht und das Entgegenkommen ohne Risiko war. Macron ärgert besonders, dass London trotz Brexit einen besseren Deal mit Washington als die EU ausgehandelt hat.
Macron hatte vergeblich versucht, Brüssel ähnlich wie in der ersten Amtszeit Donald Trumps zu einer Politik der Nadelstiche zu bringen. Unter der Ägide von Jean-Claude Juncker hatte sich die EU-Kommission nicht gescheut, Trump mit Vergeltungszöllen auf amerikanische Kultprodukte wie Bourbon-Whiskey und Harley-Davidson zu drohen. Juncker konnte einen fragilen Burgfrieden mit Trump schließen. Aus Macrons Sicht reagiert Trump nur auf eine Politik der Härte. Der französische Präsident drang auch auf den Einsatz des sogenannten Anti-Coercion-Instruments (ACI), mit dem die Zulassung von amerikanischen Produkten in Europa begrenzt, amerikanische Unternehmen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen oder Abgaben für amerikanische Digitalprodukte eingeführt werden können. Bereits im Februar bei seinem Antrittsbesuch im Weißen Haus wies Macron Trump zurecht, dass dieser den amerikanischen Überschuss gegenüber der EU im Dienstleistungshandel nicht berücksichtige.
Unterschiedliche Strategien, unterschiedliche Reaktionen
In Berlin war die Verhandlungsstrategie eine andere. Merz war bemüht, einen guten Gesprächsdraht zu Trump aufzubauen, ihn mit sachlichen Argumenten von seinem Kurs abzubringen. Nach seinem Besuch bei Trump in Washington berichtete Merz Anfang Juni in Berlin vor Wirtschaftsvertretern, wie er Trump die Handelsströme erklärt habe. Dass Deutschland jedes Jahr 400.000 Autos nach Amerika exportiere, umgekehrt die deutsche Autoindustrie in Amerika aber auch 400.000 Autos im Jahr für den Export produziere. Dass er selbst einen BMW X3, der in South Carolina produziert worden sei, dass er also ein amerikanisches Auto fahre, nur eben von einer deutschen Marke.
So unterschiedlich wie die Herangehensweisen während der Verhandlungen waren, so unterschiedlich fallen jetzt auch die Reaktionen auf das Ergebnis aus. Als eine „Unterwerfung der EU“ sieht der französische Premierminister François Bayrou das Zollabkommen. Das entspricht der Stimmungslage in Frankreich, wo die Kritik an der Verhandlungsstrategie der EU-Kommission besonders heftig ausfällt. In Berlin dagegen sprach Sebastian Hille im Namen des Kanzlers ein „großes Dankeschön“ an die EU-Kommission aus. Mit der Vereinbarung sei es gelungen, die „Kerninteressen“ von Deutschland und der EU zu wahren.
Zumindest für die Autoindustrie stellt die Zolleinigung vom Sonntag tatsächlich eine Verbesserung dar. Statt des aktuell gültigen Sonderzolls von 27,5 Prozent für Lieferungen aus der EU in die USA soll auch für Autos künftig der Basiszollsatz von 15 Prozent gelten. Schon am Sonntagabend hatte Merz die Bedeutung des Abschlusses für die Autoindustrie hervorgehoben. Diese profitiere von einer „schnellen Zollsenkung“. In Deutschland hängt jeder vierte Arbeitsplatz am Export. Es hat in diesem Handelskonflikt viel zu verlieren.
Ganz stringent war auch die deutsche Verhandlungslinie indes nicht. Dass Kulturstaatsminister Wolfram Weimer zwischenzeitlich eine Abgabe für die Digitalkonzerne ins Gespräch brachte, passte nicht zu der auf Deeskalation bedachten Strategie der Bundesregierung und auch nicht zu ihrer – zumindest bis zur vergangenen Woche – ablehnenden Haltung zum Einsatz des Anti-Coercion-Instruments gegen die Digitalkonzerne. Macron wiederum äußerte sich wiederholt irritiert darüber, dass die EU-Kommission sich mit Washington auf Gespräche zum Digital Services Act eingelassen hat. Trump will, dass die von der EU eingeführte Regulierung der sozialen Netzwerke zurückgenommen wird. „Wir importieren amerikanische digitale Dienste, die weiter von einem europäischen Steuerfreibrief profitieren“, kritisierte der französische Europaminister Benjamin Haddad am Montag. Es sei dringend nötig, hier zu einer Besteuerung zu kommen, deshalb müsse das ACI aktiviert werden.
In Berlin dagegen wich der stellvertretende Regierungssprecher Sebastian Hille Fragen aus, ob angesichts des offensichtlichen Ungleichgewichts die EU nicht nachverhandeln sollte. Es gehe jetzt darum, die Details der geschlossenen Einigung auszuverhandeln. Wenn es um die europäisch-amerikanischen Beziehungen geht, bleiben Deutschland und Frankreich vereint uneins.