Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat mit ihrer Stellungnahme „Zum aktuellen Forschungsstand bei ME/CFS“ in der vergangenen Woche eine heftige Kontroverse ausgelöst, in den sozialen Medien war gar von einer „Kriegserklärung“ an Betroffene die Rede. Im Kern geht es darum, ob die Erkrankung eine Folge körperlicher Schäden ist oder psychosomatisch verursacht.
Die Debatte wirkt aus der Zeit gefallen. Denn bereits seit den Sechzigerjahren wird ME/CFS, kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom und schwerste Ausprägung des Post-Covid-Syndroms, als neurologische Diagnose klassifiziert, die oft nach einer Virusinfektion auftritt. Vor der Pandemie gab es geschätzt bis zu 310.000 Betroffene in Deutschland, wie viele es heute sind, ist unklar. Die Patienten leiden an Gleichgewichtsstörungen, Konzentrationsmängeln, chronischen Schmerzen und schwersten Erschöpfungszuständen. Viele sind bettlägerig oder pflegebedürftig. Bisher fehlt eine heilende Therapie, und oft ist unklar, welche Behandlungsform für welchen ME/CFS-Patienten die beste ist.
Nun argumentiert die DGN in ihrem wenige Absätze langen Text: „Angesichts der bisherigen Erkenntnisse ist derzeit nicht davon auszugehen, dass immunologische Faktoren eine entscheidende Rolle bei ME/CFS spielen.“ Künftige Forschung solle daher „nicht vorwiegend“ auf diese Ansätze gerichtet sein, sondern auch Verfahren aus dem „Bereich psychischer und psychosomatischer Erkrankungen“ einbeziehen.
Forschungsgelder angekündigt
Die Stellungnahme fällt in eine Zeit, in der sich die Forschungspolitik neu sortiert. Die neuen Bundesministerinnen für Gesundheit und Forschung, Nina Warken (CDU) und Dorothee Bär (CSU), sagten früh in ihrer Amtszeit Hilfen für ME/CFS-Betroffene zu, bisher allerdings ohne konkrete Pläne. Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) verlangte in einem „Spiegel“-Interview zuletzt eine Milliarde Euro für die Therapieforschung.
Patientenverbände fordern anders als die DGN eine stärkere biomedizinische Forschung. Carmen Scheibenbogen, Immunologin an der Charité und führende deutsche ME/CFS-Forscherin, warf der DGN vor, „unwirksame und schädigende Therapien“ zu legitimieren. Sie ist an einem Kommentar der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS beteiligt, einer Organisation von Ärzten und Erkrankten. Darin heißt es, die DGN-Stellungnahme bleibe „hinter dem internationalen Forschungsstand zurück“ und könne die Versorgungslage „in eine überholte und für ME/CFS-Erkrankte schädliche Richtung“ lenken.
Dagegen sieht sich Christoph Kleinschnitz, Leiter der Neurologie an der Essener Uniklinik, in seiner laut vorgetragenen Sicht bestätigt, dass ME/CFS „keine somatische Erkrankung“ sei. Dies stand allerdings gar nicht in der Stellungnahme, zumindest nicht explizit. Tatsächlich haben Forscher zuletzt mehr Indizien für organische Mechanismen gefunden, auch wenn sie sie bisher weder gänzlich verstanden noch abschließend belegt haben. So traten bei Mäusen postinfektiöse Symptome auf, nachdem ihnen die Autoantikörper betroffener Patienten injiziert wurden. Wissenschaftler machten per Doppler-Ultraschall einen reduzierten zerebralen Blutfluss bei ME/CFS-Patienten sichtbar und zeigten mittels Biopsien Schäden an kleinen Nervenfasern. Es gibt Hinweise auf eine autonome Dysfunktion, eine geringere Herzleistung und eine Unterversorgung der Muskulatur mit Sauerstoff. Messwerte wie eine geringere Kapillardichte und eine Schwächung der Mitochondrien deuten auf strukturelle Veränderungen am Skelettmuskel bei ME/CFS hin.
In der Stellungnahme verweist die Neurologengesellschaft DGN auf Unklarheiten und fehlende eindeutige diagnostische Marker – das trifft allerdings auch auf andere, anerkannt neurologische Erkrankungen zu. Die DGN-Stellungnahme erhebt den Anspruch, den „aktuellen Forschungsstand“ zu ME/CFS zu bewerten, kommt jedoch ohne eine einzige Referenz aus. Auf die Frage, ob eine Fassung mit Quellen und Literaturverweisen existiere, heißt es bei der DGN: Es gebe keine.