„Es war wie in einem Kriegsszenario“

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Wenige Minuten nachdem der Attentäter in die Menge gerast war, hatte mich meine Teamleiterin angerufen. Wir wussten zu dem Zeitpunkt nur, dass es eine Großschadenslage mit vielen Verletzten gab und dass jemand mit dem Auto in den Weihnachtsmarkt gefahren ist. Ich habe mir meine lila Weste geschnappt und mich sofort auf den Weg gemacht. Aber ein mulmiges Gefühl hat man schon in so einer Situation.

Wann sind Sie am Tatort angekommen?

Ich erreichte den Weihnachtsmarkt um 19.38 Uhr. Ich sollte an diesem Abend unseren Einsatz vor Ort leiten, während meine Teamleiterin im Hintergrund alle Notfallseelsorger aus der Region mobilisierte. Ich hatte mich mit meinen Leuten bei einem Schnellrestaurant in der Innenstadt verabredet. Nach einer kurzen Absprache mit dem Einsatzleiter machten wir uns an die Arbeit.

Corinna Pagels war als Notfallseelsorgerin kurz nach dem Anschlag in Magdeburg im Einsatz
Corinna Pagels war als Notfallseelsorgerin kurz nach dem Anschlag in Magdeburg im EinsatzJannis Holl

Was war Ihr erster Eindruck, als Sie den zerstörten Weihnachtsmarkt sahen?

Es herrschte großes Chaos, aber ein strukturiertes Chaos. Überall waren Einsatzfahrzeuge der Rettungsdienste, der Feuerwehr und der Polizei. Es dauerte ein wenig, bis sich das alles organisiert hatte. Überall lagen Verletzte. Es war wie in einem Kriegsszenario. Die Opfer wurden nach der Schwere ihrer Verletzungen mit Farbkennzeichnungen markiert. Aber es war unglaublich schnell Hilfe am Tatort. Viele Ersthelfer haben sich um Menschen gekümmert, die sie überhaupt nicht kannten. Sie haben Infusionen gehalten und aufgepasst, dass die Wärmedecken nicht wegfliegen. Es war sehr kalt an dem Abend. Eigentlich sollte ich vor allem unser Team koordinieren. Insgesamt waren 100 Notfallseelsorger im Einsatz. Aber als vor mir ein zitterndes Kind neben seiner verletzten Mutter stand, musste ich einfach helfen.

Wie helfen Sie in einer solchen Ausnahmesituation?

Es ist wichtig, dass die Menschen merken, dass jemand für sie da ist und dass sie jetzt in Sicherheit sind. Das Mädchen war um die zwölf Jahre alt. Die Mutter lag bereits auf der Bahre und war schwer verletzt. Auch der Vater stand dabei und hatte etwas am Bein abbekommen. Das arme Kind zitterte am ganzen Körper. Ich habe eine Decke organisiert und das Mädchen warm eingepackt und ihr Mut und Zuversicht zugesprochen: „Die Mama ist zwar verletzt, aber es wird alles wieder gut.“ Nach einiger Zeit beruhigte sie sich.

Bei dem Anschlag wurden bis zu 235 Menschen verletzt. Bislang kamen fünf Menschen ums Leben. Wie geht Ihr Team mit dem Erlebten um?

Eine noch sehr junge und unerfahrene Kollegin hat sich um einen Mann gekümmert, der seine Frau verloren hat. Der Mann stand unter Schock und wollte seine Frau nicht loslassen. Meine Kollegin ist bei ihm geblieben, bis seine Kinder kamen. Das sind Situationen, in denen nicht viel geredet wird, sondern man einfach da ist, damit der Betroffene nicht allein ist. Aber sie sind sehr anstrengend. Danach habe ich die Kollegin erst mal aus dem Einsatz herausgenommen. Nach den Weihnachtstagen trifft sich unser ganzes Team, um das Erlebte aufzuarbeiten. Das ist wichtig für unsere Psychohygiene. Wir schauen, ob jemand von uns Unterstützung braucht. Wir passen auf, dass keiner unserer Seelsorger mit einem möglichen Trauma alleingelassen wird.

Der Einsatz war auch für viele Rettungskräfte sehr belastend.

Wir haben mit den Ärzten gesprochen, die versucht haben, das neunjährige Kind wiederzubeleben. Sie haben ihr Bestes gegeben, aber es nicht geschafft, den Jungen zu retten. Gerade für professionelle Rettungskräfte ist es eine traumatische Erfahrung, wenn sie nicht mehr helfen können. Zwar werden sie für solche Einsätze psychologisch geschult, aber der Anschlag war eine Extremsituation. Wir merken auch, dass unsere eigentliche Arbeit jetzt erst beginnt. Viele brauchen ein paar Tage, bis sie begreifen, dass es ihnen wegen des Erlebten schlecht geht.

Im Einsatz sind die Retter so auf ihre Arbeit fokussiert. Sie begreifen erst später, dass sie etwas Schlimmes erlebt haben. Bei manchen dauert es Monate. Das gilt auch für Augenzeugen oder Menschen, die nicht direkt betroffen waren. Eine Freundin von mir war mit ihrer Enkeltochter nur wenige Meter vom Anschlagsort entfernt. Die Kleine verkraftet es gut, aber bei der Oma setzt die Gedankenspirale an: Was wäre, wenn meiner Enkeltochter etwas passiert wäre?

In der Nacht kursierten auch Falschmeldungen in den sozialen Medien.

Uns erreichten Nachrichten, dass es Schüsse in einem Einkaufszentrum gab oder noch ein zweiter Täter draußen unterwegs sei. Da macht man sich Gedanken, ob die eigenen Einsatzkräfte in Gefahr sind. Ich verstehe auch nicht, warum Menschen solche Falschmeldungen verbreiten. Durch die sozialen Medien verbreitete sich auch schnell das Video der Überwachungskamera, das den Anschlag zeigte. Im Einsatz hat man keine Zeit, sich so was anzuschauen. Ich habe es irgendwann von meinem Partner geschickt bekommen.

Der Anschlag von Magdeburg war eine besondere Situation. Wie sehen Ihre alltäglichen Einsätze aus?

Wir sind die erste Hilfe, wenn die Welt verrückt. In jeder denkbaren akuten Notsituation sind unsere Seelsorger für die Menschen da. Wir begleiten die Polizei beim Überbringen von Todesnachrichten, sind aber auch bei Katastrophen, schweren Gewalttaten oder Unfällen direkt am Einsatzort für die Betroffenen da. Aber auch bei häuslichen Sterbefällen oder wenn jemand einen Suizidversuch überlebt hat.

Wie kann man Notfallseelsorger werden?

Man muss den Wunsch verspüren, Menschen helfen zu wollen, und bereit sein, ehrenamtlich jederzeit eingesetzt werden zu können. Wir stehen kostenfrei 365 Tage im Jahr zur Verfügung, wenn wir gebraucht werden. Über das Internet kann man sich gut informieren, an welche lokale Stelle man sich wenden kann. Eigentlich hat jeder Landkreis eine Notfallseelsorge. Für die Ausbildung muss man 110 Unterrichtsstunden besuchen. Danach folgen Pflichtpraktika bei der Polizei, der Feuerwehr und dem Rettungsdienst. Es ist wichtig zu wissen, wie die Einsatzkräfte arbeiten.

Auch Ihre Arbeit kennt Grenzen. Was machen Sie, wenn Sie merken, dass jemand mehr als akute Hilfe braucht?

Wir leisten psychosoziale Hilfe oft in den ersten Stunden nach einem traumatischen Ereignis. Viele Menschen kommen auch in den Tagen danach noch zu uns. Aber wir unterstützen in den meisten Fällen nur einmalig. Wenn wir merken, dass jemand mehr Hilfe als das braucht, empfehlen wir, sich in psychologische Behandlung zu begeben.