Wie kam es zur Migrationswende von Innenminister Dobrindt?

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An einem Montag Anfang Juni haben die Männer und Frauen an der Spitze des Bundesinnenministeriums (BMI) endlich das Gefühl, den Boden festgetrampelt zu haben unter den eigenen Füßen. Die ersten Wochen waren wild. Der neue Innenminister Alexander Dobrindt, ein CSU-Mann, hatte sofort das zentrale Wahlversprechen der Union in Angriff genommen: An seinem ersten Amtstag Anfang Mai hatte er die Migrationswende verkündet – verstärkte Kontrollen an allen deutschen Binnengrenzen und Zurückweisung von Asylsuchenden. Das war tatsächlich eine Wende, denn bisher war man in der Bundesregierung der Meinung, dass Personen, die ein Asylgesuch äußern, erst einmal einreisen dürfen. Das war die Linie des SPD-Kanzlers Olaf Scholz, es war die der CDU-Kanzlerin Angela Merkel. Sie hat das vor Kurzem sogar noch mal bekräftigt. Friedrich Merz, Alexander Dobrindt und Co. dürfte das in ihrem Vorhaben nur noch mehr bestärkt haben: Die Wende muss kommen.

Und tatsächlich: Die Zahlen sinken. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Asylanträge fast halbiert. Der Abwärtstrend begann schon unter der Ampelregierung, aber Trend ist Trend. Für Dobrindt, der in der Belastung durch die Migration die größte Gefahr für den inneren Frieden der deutschen Gesellschaft sieht, ist das ein großer Erfolg. Für ihn geht es nicht um Unionspolitik gegen SPD-Politik. Es geht um die demokratische Mitte gegen die AfD.

Eine Entscheidung platzt herein

Und jetzt das. In diesen Montag, den 2. Juni, als sie im BMI so langsam das Gefühl haben, vor die Lage zu kommen, platzt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin. Eilmeldungen ploppen auf den Handys der Mitarbeiter auf. Das Gericht gibt drei Somaliern recht, die nach Polen zurückgewiesen worden waren, obwohl sie ein Asylgesuch geäußert hatten. Nach deutschem Recht mag das rechtens sein, nach europäischem aber nicht, begründen die Richter den Eilbeschluss. Helle Aufregung im BMI. Eine Person aus dem Führungsstab sagt, ihr sei in dem Moment das Herz in die Hose gerutscht. Steht die Migrationswende jetzt auf der Kippe?

Für die Rekonstruktion dieser entscheidenden Stunden und Tage im BMI hat die F.A.Z. mit mehr als einem Dutzend Personen gesprochen, die daran auf verschiedene Art und Weise beteiligt waren. Bundesinnenminister Dobrindt war allerdings zu keinem Gespräch mit der F.A.Z. bereit.

Als der Knall vom VG Berlin kommt, lässt der Minister seine engsten Mitarbeiter sofort zu sich rufen. Was ist jetzt zu tun? Dobrindt hat eine klare Linie, vor allem in Migrationsfragen, aber er hört auch zu. Man ist sich einig: nicht wackeln. Eine längere Diskussion ist sowieso nicht möglich, weil sich schon die ersten Journalisten gemeldet haben und ein Statement des Ministers wollen. Gesagt wird: Man nehme die Entscheidung natürlich ernst, aber es sei eine Einzelfallentscheidung. Und außerdem sei das ja nur eine Eilentscheidung gewesen, das eigentliche Verfahren steht noch aus. Dobrindt sagt noch, dass er sofort mit der SPD sprechen müsse. Ihm ist klar, dass die Entscheidung bei den Sozialdemokraten schon vorhandene Vorbehalte bestärken wird.

Wie konnte die Bundesregierung diese Klatsche bekommen?

Trotzdem ist die Runde etwas ratlos. Wie konnte die Bundesregierung diese Klatsche bekommen? Warum hatte die juristische Begründung vor dem Verwaltungsgericht Berlin nicht ausgereicht? Dobrindt und die Bundespolizei wussten doch mit viel Vorlauf, was sie vorhaben und dass sie das gut werden begründen müssen.

Doch am Anfang der Migrationswende steht ein doppeltes Problem, manche sagen: ein Webfehler. Zum einen ein CSU-Politiker, der wusste, was auf ihn zukommen würde, und gerade deswegen zögerte, das Ministeramt überhaupt anzunehmen. Und auf der anderen Seite ein Bundespolizeipräsident, dem es gar nicht schnell genug gehen konnte mit der Migrationswende. Und dem deswegen Fehler unterlaufen. Für die der Minister öffentlich abgewatscht wird.

Fragt man CDU- und CSU-Politiker, ob Dobrindt gerne Innenminister werden wollte, denken sie erstaunlich lange nach. Die Antworten liegen dann zwischen „Ich kann es nicht genau sagen“ und „CSU-Landesgruppenvorsitzender war sein Traumjob“. In dieser Rolle bewies er Gespür und Händchen. Wenn Friedrich Merz bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD oder den Schuldenbremsen-Verhandlungen mit den Grünen der Ärger packte, blieb Dobrindt ruhig sitzen und verhandelte weiter.

Zusammenarbeit: Bundesinnenminister Dobrindt kommt mit Bundespolizeipräsident Romann Anfang Mai zu einer Pressekonferenz zur Situation an den deutschen Grenzen.
Zusammenarbeit: Bundesinnenminister Dobrindt kommt mit Bundespolizeipräsident Romann Anfang Mai zu einer Pressekonferenz zur Situation an den deutschen Grenzen.dpa

Aber Dobrindt hatte schließlich keine Wahl. Sein Parteichef Markus Söder hatte sich festgelegt: Alexander Dobrindt ist sein wichtigster Mann in Berlin, und er muss ein großes Ministerium übernehmen. Dobrindt kannte das schon: Er bekommt vom Chef einen parteipolitischen Kampfauftrag.

Unter CSU-Chef Horst Seehofer sollte Dobrindt als Bundesverkehrsminister die Pkw-Maut einführen – trotz enormer europarechtlicher Bedenken. Eine ähnliche Konstellation erwartete ihn auch beim Migrationsthema. Außerdem geht der Posten des Innenministers mit einer enormen Arbeitsbelastung einher, man braucht Personenschutz und lebt in der ständigen Angst, dass irgendwo in Deutschland ein Anschlag verübt wird. Aber das spielte für Söder wohl keine Rolle. Nach allem, was man hört, spielte es für Dobrindt in der Überlegung sehr wohl eine. Er sagte am Ende doch zu. Aus Verantwortungsgefühl, heißt es.

Sozialdemokraten berichten, dass sie Dobrindt als ausgleichenden und mitfühlenden Innenminister kennengelernt haben. Etwa in den Verhandlungen über die Aussetzung des Familiennachzugs. Dobrindt sei jemand, der nicht aus Prinzip, sondern aus Überzeugung zu harten Maßnahmen greife, erzählen Sozialdemokraten. Und der den Sozis wiederum nicht unterstelle, die Augen vor der Realität zu verschließen, sondern ihre Bedenken ernst nehme. Viele Sozialdemokraten lehnen den Kurs des CSU-Mannes ab. Aber persönlich kommen sie gut mit ihm klar.

Ein konservatives Haus

Dobrindt ist Soziologe, kein Jurist. Als Landesgruppenvorsitzender war er Generalist, aber kein ausgewiesener Innenpolitiker. Das BMI ist ihm fremd – und er dem BMI. Dabei waren viele Mitarbeiter erst einmal erleichtert, als sie von der Personalie erfuhren. Das BMI ist ein konservativ geprägtes Haus mit einem hohen Loyalitätsgefühl. Und einem enormen Output an Gesetzen, ein Entwurf pro Woche. Viele Mitarbeiter litten unter Dobrindts Vorgängerin, der Sozialdemokratin Nancy Faeser. Sie vermissten bei ihr die notwendige Ernsthaftigkeit für das Amt und seine Aufgaben.

Das kann man Dobrindt nun wirklich nicht vorwerfen. Was ist also das Pro­blem? Um dem nachzugehen, lohnt es, sich die Vorgeschichte der Gerichtsschlappe zu den Zurückweisungen anzusehen. Hätte das Debakel verhindert werden können, wo die Migrationswende für die Bundesregierung doch so ein wichtiges Projekt ist? Zumal sie sich sicher war, rechtmäßig zu handeln.

Vor allem einer war sich in der rechtlichen Frage sehr sicher: Dieter Romann. Er ist seit 13 Jahren Chef der Bundespolizei und über die Zeit eine mächtige Person geworden. Romann sticht aus der Riege der obersten Behördenleiter heraus. Er ist ehemaliger Deutscher Karatemeister und hat einen eigenen Kopf – mit dem er manchmal gerne durch die Wand geht. In der Bundespolizei und der Politik gibt es regelrechte Romann-Fans. Weil er einer sei, der alles für seine Behörde tue, den man nachts anrufen könne, der seine Leute schicke, wenn notwendig. Romann fasst das im Gespräch gerne in ein Bild, währenddessen lächelt er leicht und dreht sich eine der vielen Zigaretten des Tages: Die Bundespolizei sei wie ein Elefant. Groß und schlagkräftig, meint er, knapp 55.000 Mann stark ist die Truppe. Und wie ein Elefant brauche die Bundespolizei Futter und Zuneigung. Romann sei für die Streicheleinheiten zuständig.

Romann hat aber auch viele Gegner. Diese Leute schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn mal wieder das Gerücht umgeht, dass er in die Politik wechselt, also offiziell. Eine Weile wurde spekuliert, dass er unter Dobrindt den langjährigen und sehr erfahrenen Staatssekretär Hans-Georg Engelke ersetzen solle. Romann äußert sich dazu nicht. Spätestens nach der Niederlage vor dem Gericht zu den Zurückweisungen hat sich das Gerücht in Luft aufgelöst.

Dobrindt soll den Plan ausführen

Romanns prominenteste Gegenspielerin war die frühere Kanzlerin Merkel. Romann vertritt bis heute die Ansicht, dass Merkels Politik der offenen Grenzen während der Flüchtlingskrise ein Fehler war. Auch damals schon, vor zehn Jahren, waren die Zurückweisungen von Asylsuchenden ein großes Thema im politischen Berlin. Merkel lehnte die Zurückweisungen strikt ab. Merz will sie nun. Und Dobrindt soll seinen Plan ausführen. Dazu brauchen die Unionspolitiker die Bundespolizei, denn sie steht Tag und Nacht an der Grenze.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Romann eine der ersten ranghohen Personen ist, die der neue Innenminister nach der Amtsübernahme trifft und mit der er die neue Linie bespricht. Es ist der 7. Mai, ein Mittwoch. Am Vortag war Friedrich Merz im zweiten Wahlgang zum Kanzler gewählt worden. Dobrindt übernahm dann am Mittwoch die Amtsgeschäfte von Nancy Faeser. Um 14 Uhr gibt es eine kleine Feier, leitende Mitarbeiter sind anwesend, es wird ein Lied der Band U2 gespielt. Auch Romann ist im Innenministerium. Dobrindts Mitarbeiter hatten ihn am Vorabend kontaktiert. Um 16 Uhr wolle der Minister mit dem Polizeichef sprechen.

Die beiden ziehen sich also am ersten Arbeitstag von Dobrindt zum Gespräch zurück. Der Innenminister hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit seinen Staatssekretären gesprochen, er hat noch keine Pressesprecherin. An dem Treffen nehmen noch einige Mitarbeiter von Dobrindt teil. Auf dem Tisch liegt nach Schilderung von Teilnehmern der Erlass, den Dobrindt und Romann kurze Zeit später der Öffentlichkeit vorstellen werden: Der endgültige Bruch mit der Migrationspolitik von Angela Merkel. Auf wenigen Zeilen wird die Bundespolizei angewiesen, Paragraph 18, Absatz 2 des Asylgesetzes anzuwenden. Das bedeutet, es können nun auch Schutzsuchende an der Einreise gehindert werden, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kommen. Deutschland ist nur von sicheren Staaten umgeben.

Es gibt unterschiedliche Schilderungen darüber, wer diesen in Behördendeutsch gegossenen Bruch mit der Politik Merkels verfasst hat. Dobrindts Behörde? Oder Romanns? Wer ist Ross, wer ist Reiter? Was davon unabhängig auffällt: Es fehlt in dem Beschluss jeglicher Hinweis auf das europäische Recht. Konkret geht es um Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU. Dieser erlaubt nämlich, dass die EU-Staaten zur Sicherstellung der innerstaatlichen Ordnung von EU-Recht abweichen dürfen. Dobrindt wird sich in der Pressekonferenz mit Romann an diesem 7. Mai darauf beziehen. Das ist wichtig, denn europäisches Recht erlaubt Zurückweisungen eigentlich nicht. Artikel 72 könnte ein Ausweg sein, weil er nationalem Recht einen Vorrang zubilligt. Und nach deutschem Recht sind Zurückweisungen erlaubt.

Die Mutter aller juristischen Probleme

Das ist der juristische Urkonflikt in der Migrationspolitik. Man könnte sagen: die Mutter aller juristischen Probleme. Deswegen lehnt Merkel Zurückweisungen bis heute ab. Die aktuelle Bundesregierung war deswegen auch nicht überrascht, dass gegen ihr Vorgehen geklagt wird. Sie dachte eben nur: Wir bekommen recht.

Für das Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin muss die Bundesregierung zum ersten Mal ausführlich die rechtliche Grundlage ihres Handelns darlegen. Das übernimmt – überraschenderweise – die Bundespolizei. Im Innenministerium arbeitet zwar eine Heerschar von Juristen. Bei der Bundespolizei sind es deutlich weniger.

Erst 30 Minuten bevor die Frist zur Einreichung der Begründung bei Gericht endet, schickt das Bundespolizeipräsidium Potsdam die Begründung an das BMI. Sie landet nicht mal direkt auf dem Schreibtisch des zuständigen Staatssekretärs.

Trotz der wenigen Minuten, die für die Lektüre bleiben, fällt das Urteil im BMI eindeutig aus. Diese Begründung taugt nichts. Über Artikel 72 des europäischen Rechts, der ja zentral ist, steht kaum etwas in dem Schriftsatz. Allen ist klar: Die Bundesregierung wird das Eilverfahren verlieren.

Böswilligkeit will der Bundespolizei und ihrem Präsidenten Romann im BMI niemand unterstellen. Schließlich will die Behörde ja, dass die Bundesregierung weitermacht mit den Zurückweisungen. Die Erklärung, die überwiegend zu hören ist, ist simpler, aber womöglich auch fatal: Man war sich bei der Bundespolizei zu sicher. Der Polizeipräsident, selbst Jurist, sah keine Probleme. In internen Runden hat Romann dem Vernehmen nach mehrfach darauf hingewiesen, dass er mit seinen Polizeipräsidentenkollegen im Ausland gesprochen habe. Auch sie hätten keine Bedenken geäußert. Nur sind Polizeipräsidenten eben keine Politiker und keine Richter. Auch CDU-Politiker finden, dass Romann sich inzwischen zu mächtig fühle. Zu sicher. Das passiere immer, wenn Behördenchefs so lange im Amt seien. Dobrindt wiederum witterte wohl nicht die Gefahr. Oder vertraute der Bundespolizei mehr als Leuten aus seinem eigenen Ministerium, die Romann schon lange kennen – und Dobrindt vorgewarnt hatten.

Einfach mal machen?

Manche erkennen bei Romann ein Muster: Einfach mal machen, die Bedenken kommen später. Im BMI erinnert man sich noch gut an einen Vorfall vor einigen Jahren: Romann war auf eigene Faust in den Irak geflogen, um einen aus Deutschland geflohenen Straftäter zurückzuholen. Zufällig war eine Boulevardzeitung dabei, zufällig schaffte es Romann erst kurz vor Rückflug, das BMI zu informieren. Denn absichern will sich Romann schon. Deswegen schickte er auch kurz vor Schluss den juristischen Schriftsatz an das Ministerium. Soll keiner sagen, er hätte nichts gewusst.

Zur Eilentscheidung des VG Berlin sagt Polizeipräsident Romann auf Anfrage der F.A.Z.: „Der Beschluss der 6. Kammer des VG Berlin ist eine Einzelfallentscheidung. Er betrifft einzig und alleine die dort verhandelten drei Fälle und entfaltet darüber hinaus keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung. Die generelle Frage der Rechtmäßigkeit von Zurückweisungen wurde dort überhaupt nicht verhandelt, sondern nur die temporäre Einreisegestattung zur Durchführung des sogenannten Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens in Grenznähe nach der Dublin-Verordnung unter Wahrung der hierfür bestehenden Fiktion der rechtlichen Nichteinreise.“ Und weiter: „Eine generelle Einreise, zum Beispiel zur Durchführung des materiellen Asylverfahrens in Deutschland, wurde ausdrücklich nicht gestattet. Diese Frage ist Gegenstand im Hauptsacheverfahren.“

Der Polizeipräsident bleibt also selbstbewusst. Den Schaden hat der Innenminister. Nun sitzen die Juristen des BMI an dem Schriftsatz für das Hauptverfahren zu den Zurückweisungen. Der Bundespolizei hat man das Verfahren aus der Hand genommen. Ein Sprecher des Hauses teilt der F.A.Z. mit, dass das Ministerium zuversichtlich sei, dass die Gerichte die Zurückweisungsentscheidungen im jeweiligen Einzelfall würdigen werden. „Die Migrationswende wirkt.“ Wie zu hören ist, wurde Dobrindt gegenüber Romann deutlich. So etwas dürfe nicht noch mal passieren.