Tom Fletcher: UN-Nothilfekoordinator und Diplomat

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„Arab News“ bezeichnete den Briten Tom Fletcher, seit November vergangenen Jahres Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen (UN), vor einigen Jahren als „Antidiplomaten“. Nicht weil er in der Diplomatie keinen Wert sehen würde, so die Zeitung, sondern weil er sich standhaft weigere, dem Stereotyp eines Botschafters zu entsprechen: Diskret, distanziert, unauffällig – Fletchers Diplomatie scheint anderen Prinzipien zu folgen. Das zeigte nicht zuletzt auch seine Arbeit als UN-Nothilfekoordinator, eine Funktion, in der er, als Verantwortlicher für die Lebensmittellieferung in den Gazastreifen, derzeit sehr gefragt ist.

Der 1975 in Kent geborene Fletcher hat eine rasante Karriere im diplomatischen Dienst hingelegt: Nach einem Studium in Oxford war er im Außenministerium tätig, hat im Nordirlandkonflikt vermittelt und als außenpolitischer Berater unter drei Premierministern verschiedener Parteien gearbeitet, bevor er 2011 mit 36 Jahren als Botschafter nach Libanon entsandt wurde.

Auf dem Posten, den er als einer der jüngsten britischen Botschafter überhaupt erhalten hatte, inszenierte er sich als moderner Diplomat: nahbar, transparent, zugewandt. Für ihn sind das die Prinzipien moderner Diplomatie, wie er später in seinem Buch „The Naked Diplomat“ (2016) darlegte. Fletcher suchte die Öffentlichkeit und gilt als einer der ersten Botschafter, die ihre Arbeit auch über einen eigenen Blog und die sozialen Medien vermittelten. Sein Abschiedsbrief „So … Yalla, Bye“ den er in Anlehnung an die einstige Tradition des „Valedictory despatch“ zum Ende seiner Amtszeit 2015 verfasste und – um gleichzeitig die Tradition zu brechen – an die libanesische Öffentlichkeit adressierte, fand nicht nur bei Diplomaten Beachtung.

Im November folgte der verheiratete Vater zweier Kinder dem Briten Martin Griffiths als UN-Nothilfekoordinator nach – eine nicht unumstrittene Wahl, hatte es doch aus dem Nahen Osten und anderen Ländern Forderungen gegeben, den Posten nicht länger einem britischen Kandidaten zu überlassen.

Dass seine undiplomatische Art nicht immer ein Vorteil ist, zeigte sich, als er Ende Mai in einem Interview mit der BBC zur humanitären Lage im Gazastreifen behauptete, dass 14.000 Babys innerhalb von 48 Stunden sterben würden, sollten die Hilfslieferungen die Enklave nicht rechtzeitig erreichen. Israels Außenministerium wies die Behauptung als falsch und als Chiffre der antisemitischen Ritualmordlegende zurück. Fletcher ruderte kurz darauf zurück und sagte, er habe den UN-Bericht zur Ernährungssicherheit falsch interpretiert. Er gab zu: „Wir müssen mit unserer Sprache absolut präzise sein.“ Die BBC sah sich gezwungen, eine Richtigstellung zu veröffentlichen.