Klingbeil blockt Renten-Vorstoß von Katherina Reiche ab

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Katherina Reiche lässt nicht locker. „Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir angesichts der demographischen Situation über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit sprechen müssen“, sagt die Bundeswirtschaftsministerin und CDU-Politikerin, als sie am Dienstagnachmittag im Rahmen ihrer Sommertour den Hamburger Hafen besichtigt. Es geht um die Zollvereinbarung der EU mit Donald Trump, um die Zukunft der Autoindustrie und auch um Reiches Äußerungen im Interview mit der F.A.Z., für die sie seit Tagen Kritik einstecken muss. Reiche könnte jetzt zurückrudern, sagen, dass sie das mit dem längeren Arbeiten so nicht gemeint habe. Aber das macht sie nicht. „Die reflexhaften Reaktionen bestärken mich darin, dass es notwendig ist, diese Debatte zu führen“, sagt sie, während über ihr ein Kran Container auf einen Frachter stapelt.

86 Tage ist die schwarz-rote Koalition nun im Amt, und nach der Debatte um die Stromsteuer und die Richterwahl bricht die nächste Konfliktlinie auf – bei einem für die Zukunft Deutschlands viel wichtigeren Thema. Was Reiche gesagt hatte, war eigentlich kein geborener Aufreger. „Es kann auf Dauer nicht gut gehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen.“ Und: „Der demographische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen.“ Nahezu alle ökonomischen Berater der Bundesregierung fordern das seit Jahren. Aber ebenso lange scheuen sowohl Union als auch SPD eine Reform, aus Angst vor dem Zorn ihrer Wähler, von denen überdurchschnittlich viele im Renten- oder im rentennahen Alter sind. Reiche hat mit ihren Äußerungen das gemacht, was beide Parteien tunlichst vermeiden wollten: Sie hat Unruhe ausgelöst.

Der Widerstand gegen Reiches Vorstoß für eine längere Lebensarbeitszeit ist groß. Auf die Frage, ob Reiche die Unterstützung des Finanzministers und Vizekanzlers habe, findet Lars Klingbeil (SPD) am Mittwoch deutliche Worte: „Sie hat in der konkreten Sache die Unterstützung nicht, weil wir in den Koalitionsverhandlungen sehr klar besprochen haben, dass es keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben wird.“ Mit Blick auf die geplante Rentenkommission fügt Klingbeil hinzu: „Es hilft nicht, wenn es andauernd solches Reinrufen von der Seitenlinie gibt.“

Härte der Kritik vonseiten der Union überrascht

Dass die SPD Reiche nicht unterstützen würde, war zu erwarten. Die Partei hat mit dem Verweis auf den hart arbeitenden Dachdecker und die hart arbeitende Krankenschwester bislang noch jede Rentenreform abgeblockt. Überraschender war schon die Härte der Kritik, die der Wirtschaftsministerin aus der Union entgegenschlug. Der Vizevorsitzende des Arbeitnehmerflügels CDA Christian Bäumler bezeichnete Reiche als „Fehlbesetzung“. Der Sprecher von Kanzler Friedrich Merz versicherte eilig, dass die Bundesregierung das Renteneintrittsalter nicht erhöhen wolle. Der thüringische Ministerpräsident Mario Voigt rüffelte Reiche ebenfalls. Abgesehen vom Vorsitzenden der Hamburger Landesgruppe, Christoph Ploß – zugleich der Beauftragte für Maritimes in Reiches Ministerium –, sprang ihr bislang niemand öffentlich bei. Der nordrhein-westfälische Landesvater Hendrik Wüst flüchtete sich in eine Formulierung, wonach es eine „große Rentenreform“ brauche – aber vornehmlich mit freiwilligen Anreizen.

Reiche hatte bei ihrem Amtsantritt angekündigt, dass sie das „ordnungspolitische Gewissen“ im Kabinett sein wolle. Diejenige, die auf das wirtschaftlich Gebotene achtet, weniger auf das politisch Erwünschte. Als die Koalitionsspitzen entschieden, dass für die Senkung der Stromsteuer kein Geld da ist, für die Ausweitung der Mütterrente dagegen schon, blieb Reiche jedoch erst mal still. Auch als Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) den Gesetzentwurf zur Festschreibung des Rentenniveaus und ein ziemlich bürokratisches Tariftreuegesetz vorlegte, war kein Widerstand von ihr zu hören. Anders als ihr Vorgänger Robert Habeck (Grüne) suchte Reiche bislang nicht das öffentliche Rampenlicht.

Schon auf dem Parteitag der CDU im Mai 2024 wurde deutlich, dass der wirtschaftspolitische Reformeifer der Partei bei der Rente abrupt endet. Karl-Josef Laumann, die einflussreiche Stimme des Sozialflügels, warnte seine Parteifreunde damals, mit dem Thema Rente könne man Wahlen verlieren. Im Grundsatzprogramm der CDU steht der Satz, dass das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt werden soll. Ins Wahlprogramm schaffte er es nicht. Hört man sich in der Partei um, kommt als Begründung für die Scheu vor einer Rentenreform immer wieder die Angst, noch mehr Stimmen an die AfD zu verlieren. Politiker, die laut über eine Neuverteilung der Lasten des umlagefinanzierten Rentensystems nachdenken, berichten über wütende Reaktionen der eigenen Wähler. Wie die SPD nach der Agenda 2010 abgestraft wurde, hat offenbar nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch in der CDU ein Trauma ausgelöst.

Vielleicht hilft es Reiche, dass sie lange raus war aus der Politik und dass der Koalitionsvertrag schon fertig war, als Merz ihr das Wirtschaftsministerium übertrug. Das macht es für sie einfacher, sich von dem Vereinbarten zu distanzieren. Zugleich kann diese Distanz für Reiche aber auch zu einem Problem werden. Nicht nur bei Grünen und Linken, auch in Teilen der SPD wird Reiche als Lobbyistin der Wirtschaft gesehen, die man misstrauisch beobachten muss. Dass Reiche ihre neue Rolle noch nicht ganz gefunden hat, zeigt sich am Dienstag auch am Hamburger Hafen. Als sie eine Drohne begutachtet, die zur Kon­trolle der Schiffe und Ladevorgänge eingesetzt wird, sagt Reiche erfreut: „So eine haben wir bei uns im Unternehmen auch.“ Dann korrigiert sie sich schnell: „In meinem früheren Unternehmen.“