Für eine Mehrheit ist Zuwanderung kein drängendes Problem

10

Bill Clinton verdankte seinen Wahlsieg 1992 auch seinem Wahlslogan: „It’s the economy, stupid!“ Sollten Wahlkämpfer heute bei uns sagen: Es ist die Zuwanderung, Dummkopf? Weil die Deutschen sie als das wichtigste politische Problem ansehen? Dann würden sie einen großen Fehler begehen, glauben Heiko Giebler und Karoline Estermann vom Berliner Exzellenzcluster SCRIPTS. „Dysfunktionale Responsivität“ herrsche, wo Politiker an den Leuten vorbeireden oder ihnen einreden wollen, ganz andere Dinge seien wichtiger als die, die ihnen tatsächlich Sorgen bereiten. Und das, so Giebler und Estermann, passiere gerade in Deutschland.

Für die im Rahmen von SCRIPTS durchgeführte Umfrage „Public Attitudes towards the Liberal Script (PALS)“ wurden zwischen 2021 und 2023 Daten von mehr als 60.000 Menschen in 30 Ländern erhoben, darunter Deutschland, Australien, Indien, Peru, Tunesien und den USA. Aus einer Liste von 15 Aspekten sollten die Teilnehmer acht auswählen, die ihrer Ansicht nach eine große gesellschaftliche Bedrohung für ihr jeweiliges Land darstellten.

Das Thema liegt abgeschlagen auf Platz 14

Neben Zuwanderung und ökonomischer Ungleichheit waren dies unter anderem Aspekte wie Krieg und Gewalt, Steuerhinterziehung, der Klimawandel und die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft. Der überraschende Befund: Über alle Länder und Personen hinweg sei die Zuwanderung mit einer Auswahlhäufigkeit von lediglich 34 Prozent auf Platz 14 gelandet, während auf den vorderen Plätzen ökonomische Ungleichheit (64 Prozent), Pandemien (63), Armut (59) und Steuerhinterziehung (55) zu finden waren. Folge man aber den medialen Diskursen und politischen Debatten, scheint die größte gesellschaftliche Herausforderung die Zuwanderung zu sein, so Giebler und Estermann. Weiß die Politik nicht, was die Menschen tatsächlich bewegt?

Man könnte einwenden, dass zumindest die Pandemie heute an Bedeutung verloren hat. Und vielleicht würde das Thema Zuwanderung zumindest in Deutschland aktuell einen höheren Rang einnehmen. Auch sind die betrachteten Länder sehr unterschiedlich von Migration betroffen. Für alle gelte jedoch, dass mehr Menschen ökonomische Ungleichheit als Bedrohung wahrnähmen als die Zuwanderung. In Deutschland nannten nur 33 Prozent Zuwanderung als eine große Bedrohung, jedoch 66 Prozent die Ungleichheit. Aber selbst in Umfragen kurz vor der Bundestagswahl sei die Zuwanderung nicht unter den wichtigsten Themen für die Wahlentscheidung der Befragten genannt worden, so Giebler und Estermann.

Fehlgeleitete Responsivität

Wegen dieser und ihrer eigenen Befunde richten sie an die „politischen Mandatsträger“ den Vorwurf, sie verletzten das Gebot der „Responsivität“, das von den Volksvertretern verlangt, auf die Ängste und Sorgen der Bürger zu reagieren und sich an deren Prioritäten zu orientieren. Das täten sie aber nicht, stattdessen drehe sich der politische Diskurs permanent um die Zuwanderung und ihre Probleme. Die Migrationsdebatte sei darum ein Beispiel dafür, wie Responsivität dysfunktional werden könne.

Daraus werde dann ein demokratisches Defizit, eine Repräsentationslücke: Es bestehe in der Politik die Intention, der öffentlichen Meinung gerecht zu werden, doch die sei aus dem Blickfeld geraten. Was in Deutschland einmal mit dem Bemühen von Politik und Medien begonnen habe, die Sorgen der Pegida-Demonstrationen ernst zu nehmen, bedeute heute eine „Überrepräsentation einwanderungsskeptischer Positionen“.

Was wäre zu tun? An die Politik gerichtet: Erst einmal die Diskrepanz verringern zwischen der tatsächlichen öffentlichen Meinung, wie sie in den PALS-Daten sichtbar werde, und dem öffentlichen Diskurs, der sich auf die Migration verengt habe. Wenn es gelänge, andere Herausforderungen als Migration und Integration in den Mittelpunkt dieses Diskurses zu rücken – allen voran die ökonomische Ungleichheit –, könnte das einer weiteren Enttäuschung über das mangelhafte Funktionieren der repräsentativen Demokratie entgegenwirken, so die Mahnung von Giebler und Estermann. Rechte Parteien hätten es weltweit geschafft, die Zuwanderung zum Reizthema Nummer eins zu machen.

Den Parteien der gesellschaftlichen Mitte zu raten, trotzdem nicht ständig über Migration zu reden, sondern über andere Themen, klingt nach den Befunden der PALS-Daten schlüssig – und bleibt dennoch ein riskantes Unternehmen, das leicht als Ängstlichkeit ausgelegt werden kann. Und man sollte sich als Politiker vorher natürlich auch fragen, was man denn etwa gegen die ökonomische Ungleichheit zu tun gedenke. Sonst ist man am Ende selbst der Dumme, der gar nichts im Angebot hat.