Analyse der FDP: „Wir haben die Erwartungen vieler Bürger enttäuscht“

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Die FDP-Führung sieht mit Blick auf die vergangenen Jahre Anlass zur Selbstkritik. Der Partei sei es nicht gelungen, ausreichend Menschen von ihrer Problemlösungskompetenz zu überzeugen. FDP-Politiker seien als unnahbar und bürgerfern wahrgenommen worden; es sei nicht gelungen, eine Mission zu definieren, die über die Kernwählerschaft hinaus anschlussfähig sei. Überhaupt habe man die Kernwählerschaft nicht vergrößern können. Das geht aus einer Präsentation hervor, die erste Erkenntnisse zu den Gründen für das Ausscheiden aus dem Bundestag zusammenfasst und nun mit dem FDP-Bundesvorstand diskutiert werden soll. Sie liegt der F.A.Z. exklusiv vor.

Grundlage für die achtundvierzigseitige Darstellung ist eine Analyse der vergangenen zehn Jahre; in diese floss neben vielen Daten aus dieser Zeit, etwa Zahlen zu Umfragetrends und Wählerwanderungen, auch eine Umfrage unter rund 3000 Teilnehmern ein, die im Mai dieses Jahres durchgeführt wurde. Ihr Fazit fasst der Parteivorsitzende Christian Dürr gegenüber der F.A.Z. so zusammen, dass die Menschen einerseits Reformwillen und -mut immer noch als Markenkern der FDP sähen, andererseits aber „gerade deshalb“ enttäuscht gewesen seien, dass in der Ampelkoalition kein echtes Reformprojekt machbar gewesen sei.

In der Analyse heißt es, die Partei habe sich im Klein-Klein verloren. Weil keine großen Herzensprojekte möglich gewesen seien, habe man sich unnötig verkämpft. „Bei jedem auch noch so kleinen Thema sollte das Maximum aus FDP-Sicht erreicht werden.“ Es hätten Mut und die Fähigkeit gefehlt, sich an veränderte Lagen schnell anzupassen.

Viele wählten die FDP nur einmal

Als ein Kernproblem wurde identifiziert, dass man es nicht geschafft habe, Wähler langfristig an sich zu binden. So habe die FDP bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 zwar jeweils gute Ergebnisse erzielt (10,7 beziehungsweise 11,5 Prozent), sei sich aber nicht ausreichend darüber bewusst gewesen, dass es sich in weiten Teilen nicht um dieselben Leute gehandelt habe. Beide Male wählten mehr als fünf Millionen Menschen die FDP, aber nur zwei Millionen wählten sie bei beiden Wahlen.

2017 war die Wählerschaft demnach vielfältiger und stärker orientiert am Ruf der FDP als Reformkraft. Von ihnen wandten sich allerdings nach den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen viele enttäuscht ab. Hier sei der Ruf als Reformkraft schon beschädigt worden, heißt es in der Analyse. Ergebnis: Etwa eine Million Wähler wanderten ab.

Bei der Wahl 2021 profitierte die Partei stärker von der Wechselstimmung im Land und dem Frust über die Corona-Maßnahmen. „Lindner hat mit großem taktischen Erfolg Unzufriedenheit mit der Regierung Merkel für die Mobilisierung genutzt“, heißt es in der Präsentation. So habe man vor allem Union und AfD Wähler abjagen können, dazu Erstwähler und einige aus dem Lager der Nichtwähler.

Als Meilenstein auf dem Weg in die außerparlamentarische Opposition erkennt die Analyse auch die „Thüringen-Situation“, wie die Regierungskrise infolge der Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Ministerpräsidenten 2020 in der Analyse überschrieben ist. Die habe dem Ruf der FDP als liberale Rechtsstaatspartei geschadet. Man habe „(passive) Kooperationsbereitschaft“ mit der AfD signalisiert, trotz der schnellen Klarstellung durch Lindner und des Rücktritt Kemmerichs. Hier seien eine weitere Million Wähler nach rechts „und ganz erheblich auch nach links“ abgewandert. Danach habe die Parteiführung keinen Plan gehabt, wie man gegensteuern könne.

„Und dann kam der Ampel-Exit …“

Der Wahlerfolg 2021 sei dann zu einer „großen Hypothek“ für die Partei geworden. Die „völlig veränderte Wählerschaft“, die mit dem Fokus auf individuelle Freiheitsrechte gewonnen worden sei, sei von der Arbeit der Ampel schnell enttäuscht gewesen. Kurz sei es noch bergauf gegangen, als die FDP in der öffentlichen Wahrnehmung als Gewinnerin der Sondierungen erschienen sei. Doch im Koalitionsvertrag sei das Hauptproblem schon angelegt gewesen. Die FDP konnte „nur auf Verhandlungserfolge stolz sein, die den Status Quo festschreiben: KEINE Aufweichung der Schuldenbremse, KEINE Steuererhöhungen, KEIN Tempo-Limit auf Autobahnen“. Angestoßene Reformen, etwa bei der Einwanderung in den Arbeitsmarkt, seien nicht groß wahrgenommen worden.

Auf die veränderte Wählerschaft und die damit verbundenen Ansprüche an die FDP in der Regierung habe es keine „strategische Reaktion“ gegeben. Es folgte der zermürbende Ampelstreit. „Und dann kam der Ampel-Exit …“, wie es auf einer Folie lakonisch heißt. Dass die Umstände des Austritts aus der Regierung die Lage der Partei deutlich verschlechtert hätten, sieht die Analyse nicht. Allerdings sind zwei Zitate von Befragten der Präsentation jeweils ganzseitig beigefügt, wie um zu untermauern, dass es diese Stimmen durchaus gebe. „Das ist einfach kommunikativ schlecht gelaufen. Deswegen haben die Leute sich verarscht gefühlt und gesagt, wir wählen die jetzt nicht mehr“, wird ein Befragter namens Patrick zitiert. Und eine Nancy: „Unfassbar was die da alles getrieben haben. Wie sie es gemacht haben. Wie das dann auch alles rausgekommen ist. Das kam mir irgendwie wie ein Schmierentheater vor und nicht wie Mitglieder des Deutschen Bundestages.“

Parteichef Dürr ist nun an einem konstruktiven Umgang mit den Ergebnissen gelegen. „Wir müssen eingestehen, dass wir die Erwartungen vieler Bürger enttäuscht haben. Das bedaure ich; und die Formulierung wähle ich bewusst, denn ich war auch selbst in Verantwortung.“ Zuletzt hatte Dürr die FDP-Fraktion im Bundestag geführt. Dürr konstatiert, die Menschen „haben uns nicht mehr als echte Problemlöser gesehen“. Das werde man ab jetzt besser machen.

Die Präsentation fasst die Schlussfolgerungen unter der Überschrift „Lessons learned“ zusammen. So will man sich volksnäher ausdrücken. Die FDP-Sprache sei als „abstrakt“ oder „werblich-weichgespült“ empfunden worden. Das Ausbleiben negativer Botschaften werde als Schönrednerei und Beleg für Unwahrheiten betrachtet. FDP-Politiker litten unter einem Mangel an Glaubwürdigkeit. Zwar betont die Analyse, dass das ein Kommunikationsproblem sei, doch es bestehe nun mal. FDP-Politiker würden als „elitäre Experten wahrgenommen, die Interessen anderer vertreten“.

Zudem müsse man nun eine größere Kernwählerschaft aufbauen. Dieses Ziel sei in den vergangenen Jahren verfehlt worden. Dazu komme, dass die FDP relevanten gesellschaftlichen Debatten nicht ausweichen dürfe; dazu zählten die „gefühlte Bedrohung der Meinungsfreiheit“, alles rund um Migration und die Sorge um gestiegene Mieten und Preise.

Da für die Wahl einer Partei entscheidend sei, wie Wähler ihren Markenkern und ihre Reputation sähen, brauche sie mehr Profilierung. Dafür könne sie sich tagespolitisches Lavieren öfter sparen. Man wolle nach wie vor Optimisten und reformfreudige Menschen ansprechen; aus den Misserfolgen in der Ampel sei also nicht abzuleiten, weniger Reformkonzepte vorzuschlagen, sondern mehr.

Um das inhaltlich zu füllen, will die FDP-Führung nun zusammen mit allen Mitgliedern ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten. Dabei will man wegkommen von der „Politphilosophie“ und hin zu „konkreten Lösungen für reale Alltagsprobleme“. Bürgernähe soll das Leitmotiv sein.