Wehrübung. Urlaub in Kampfmontur | FAZ

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Binnen 24 Stunden war Thomas Schulz seinen Titel los. Gefühlt natürlich nur und auch nur für eine Woche. Da erging es dem 60 Jahre alten Vorstandsvorsitzenden des börsennotierten Industriedienstleisters Bilfinger nicht anders als seinen 59 Mitstreitern, denen er vergangenen Sonntagabend zum ersten Mal begegnet ist. Darunter zum Beispiel die sächsische Landtagsabgeordnete Jessica Steiner, 35, eine gelernte Intensivkrankenschwester und Mitglied des Bundesvorstands der CDU.

Schulz und die anderen sind Teilnehmer eines Lehrgangs für zivile Führungskräfte, die die Infanterieschule der Bundeswehr im unterfränkischen Hammelburg zweimal jährlich veranstaltet. Frisch eingekleidet in die typische Feldmontur, hat die bunt zusammenwürfelte Gruppe am Montagabend öffentlich ihr feierliches Gelöbnis abgelegt. Die Damen und Herren Richter, Abgeordnete, Ingenieure, Hochschullehrer, Rüstungsmanager und eben auch Konzernchef Schulz wurden dadurch im Handumdrehen zu Soldatinnen und Soldaten, für die Frist von sieben Tagen, allesamt mit dem Dienstgrad eines Oberleutnants.




Die Teilnehmer: Gemeinsam mit 60 wildfremden Menschen verbringt Bilfinger-Chef Thomas Schulz seinen Urlaub bei der Bundeswehr.








In Felduniform mit aufgesetzten, tief ins Gesicht gerückten Helmen stehen sie jetzt in Reih und Glied auf dem Dachboden einer Scheune, um sich schon in der nächsten Minute zu Boden zu werfen, den bellenden Befehlen eines Feldwebels zu folgen und mit dem Aufwärmtraining zu beginnen. Wieder wird es ein langer Tag, diesmal nicht mit hochkarätigen Vorträgen zur Bundeswehr, ihrer aktuellen Situation oder ihrer notwendigen Transformation, zu denen Generäle von verschiedenen Standorten der Bundeswehr eigens anreisen. Es geht raus ins Feld, auf den riesigen Truppenübungsplatz und in die Geisterstadt Bonnland des „Lagers Hammelburg“, welches oberhalb des gleichnamigen Städtchens gelegen ist.







Sie seien jetzt Kameradinnen und Kameraden, sagt Andreas Steinhaus, General der Infanterie und Kommandeur der Hammelburger Ausbildungsschmiede. „Indem wir sie in diese Rolle versetzen, zeigen wir ihnen binnen einer Woche, was unsere Soldaten zu leisten im Stande sind.“ Und was sie leisten müssen. Bis zu 50 Kilo tragen sie am Leib. So sind Bundeswehrsoldaten in der Hitze in Mali herumgelaufen, Tage-, wochen-, monatelang. Bundeswehr erleben, nicht nur ihr zuschauen ist die Devise der für alle denkwürdigen Woche. Jetzt sollen es die Führungskräfte zumindest im Ansatz nachspüren, ein Verständnis entwickeln und dieses dann als Multiplikatoren in die Gesellschaft hineintragen. Deshalb hat auch Vorstandschef Schulz Urlaub genommen, am vergangenen Sonntagabend ein spartanisches Einzelzimmer in der Kaserne bezogen. Nicht aus Spaß oder Abenteuerlust, sondern aus Überzeugung. „Die Bundeswehr muss wieder in die Mitte unserer Gesellschaft rücken“, sagt er. Dabei könne und müsse auch die Wirtschaft helfen.



„Indem wir sie in diese Rolle versetzen, zeigen wir ihnen binnen einer Woche, was unsere Soldaten zu leisten im Stande sind.“

ANDREAS STEINHAUS, General der Infanterie












Nach einer Viertelstunde kommt der Trupp der Wochensoldaten auf der anderen Hausseite wieder heraus, hat die Aufgabe irgendwie bewältigt, natürlich längst nicht die unendlichen Raffinessen des Häuserkampfes auch nur im Ansatz begriffen, dafür aber zweierlei gelernt. Erstens das, was die Bundeswehr nach den Worten von General Steinhaus ausmacht: Entscheidungsfreude, Verantwortungsbereitschaft, das Aushalten von Härten, die Bewältigung von Herausforderungen und die Notwendigkeit des Gehorsams. Dieses Wort nimmt Steinhaus nicht einmal in den Mund, macht aber doch unmissverständlich klar, dass die frisch aufgenommenen Zivilisten Befehle befolgen müssen. Auch Chefs. Darüber hinaus haben sie Kameradschaft erfahren. Das ist wahrscheinlich das Wertvollste, das die Bundeswehr bietet, etwas, das die Soldatinnen und Soldaten in echten Einsätzen weit über ihre physischen und psychischen Grenzen hinauswachsen lässt. Hier jedenfalls bekommen sie eine Ahnung des „Keiner bleibt zurück“. Das haben sie schon an den mit Programm vollgepackten Tagen davor gelernt, beim Hindernislauf zum Beispiel. Nicht jeder ist schnell und agil, die Altersspanne geht von 22 bis 60. Manch einem muss – zum eigenen Erstaunen – über ein Hindernis geholfen werden. Vor dem Häuserkampf wurden sie über die Infanterie-Kampfbahn getrieben, auf der eine Gefechtssituation im Gelände simuliert wurde. Wieder steigt überall Nebel auf, dazu brennen Feuer in zerbombten Gebäuden, durch die die Truppe hindurchläuft, nachdem sie mit ihren Kampfwesten, voll bepackten Rucksäcken und zwei schweren Holzkisten durch ein unterholzähnliches Netz und einen engen Tunnelschacht gekrochen ist. Wieder hilft jeder jedem, und es spielt keine Rolle, wer was ist und wen man mag oder nicht.




In Deckung: Häuserkampfübung in dem Übungsdorf Bonnland auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg




Die Teilnehmer sind begeistert. „Es ist anstrengend und macht doch Spaß, obwohl wir natürlich wissen, dass Krieg kein Spaß ist und man das so vielleicht gar nicht sagen sollte“, kommentiert die Landtagsabgeordnete Steiner. Und auch Schulz lobt den Lehrgang: „Top vorbereitet, super gemacht“, sagt er, immer noch ein bisschen außer Atem. „Ich bin nicht mehr 20“, setzt er entschuldigend hinzu und lacht. Aber auch als Vorstandsvorsitzender müsse man körperlich fit sein. Der Ausbildungsleiter, ein Oberstleutnant, berichtet von seinen Beobachtungen der vergangenen Tage. Am ersten Tag schimmerten trotz Uniform und Dienstgrad die Alltagsrollen der Teilnehmenden in ihrem Verhalten noch durch. „Spätestens am dritten Tag aber ist das vollkommen vorbei“, sagt er. Dann seien die Beteiligten tatsächlich komplett aus ihrer Welt gerissen, hätten auch kaum mehr Zeit, darüber nachzudenken, denn wenn sich der Tag gegen Mitternacht dem Ende zuneigt, bleiben kaum mehr als fünfeinhalb Stunden. Und da muss geschlafen werden. Bereits um 6 Uhr morgens, pünktlich zur Flaggenparade, wird die Vollständigkeit festgestellt.

„Wir veranstalten hier kein Bootcamp“, sagt General Steinhaus. „Es steht nicht im Mittelpunkt, die Damen und Herren an ihre körperliche Leistungsgrenze zu bringen.“ Das sehen Ausbildungsleiter und Zugführer etwas anders. Sie sorgen schon dafür, dass die frisch gekürten Soldaten so ziemlich jede Übung schweißgebadet beenden. Und dass der Adrenalinlevel steigt.




Die Übungen sind nicht nur körperlich, sondern auch emotional belastend. Bei der Simulation der schweren Verwundung einiger Kameraden nach einem heftigen Drohnenangriff wird so manch einer schneeweiß, wenn den Verletzten Arme und Beine fehlen, wenn sie in hohem Bogen Blut unaufhörlich spucken und mithilfe von Silikon verheerend hergerichtet sind. Da zittern Stimme und Knie, erzählt der Ausbildungsleiter. Sicher auch, weil sie den Krieg mitdenken, der in der Ukraine tobt. In Realität erleben will das keiner. Intensivkrankenschwester Jessica Steiner gibt zu, dass sie am Tag jener Übung eine veritable Kreislaufschwäche ereilte. Nicht weil sie keine Verwundeten sehen kann, sondern womöglich weil die Bedingungen, unter denen diese versorgt werden müssen, mit der Notaufnahme eines modernen Krankenhauses nichts zu tun haben. Schließlich befinden sie sich gerade im Krieg.

Krieg? Ja, Krieg ist wieder ein Thema derzeit in Europa, nicht nur für die Bundeswehr, auch für die Zivilgesellschaft, seit Russland die Ukraine überfallen hat. Das sehen sie alle so, sie wären ja sonst nicht gekommen. Die erhöhte Aufmerksamkeit, die die Truppe angesichts der geopolitischen Lage inzwischen erhält, sei spürbar, sagt General Steinhaus, nicht nur beim Tag der Bundeswehr oder bei lokalen Veranstaltungen der Verbände in der Öffentlichkeit, die besser besucht und inhaltlich intensiver hinterfragt werden als zur Hochzeit der Friedensdividende. Auch das Interesse von Schulklassen und Schülern habe enorm zugenommen, die verstärkt sicherheitspolitische Informationen nachfragten.1.10608093







Erfreulich zwar, aber da geht noch mehr. Und das muss es aus Sicht der Bundeswehr auch in einer Zeit, in der Russland parallel zum Ukrainekrieg intensiv den Aufwuchs seiner Truppen an der NATO-Ostgrenze im Baltikum betreibt. Thomas Schulz fände es gut, wenn sich mehr Leute in der Bundeswehr engagierten, am liebsten so wie in Schweden, wo viele Personalchefs Offiziere der schwedischen Armee gewesen sind. Der Übergang vom Militär in die Wirtschaft sei etwas Positives. „Wenn wir das hier erreichen wollen, dann muss man auch mal vorweggehen.“ Immer wieder kommt er auf die skandinavischen Länder zu sprechen, wo er bis 2022 gearbeitet hat.

Jetzt will er die Wirtschaft wieder ein wenig näher an die Bundeswehr heranrücken, nicht zur Akquisition von Aufträgen, sondern weil sich daraus noch anders eine Win-win-Situation ergeben könne. Die Bundeswehr sei ein hervorragender Ausbilder, auf der beruflichen Schiene und akademisch. Junge Leute seien nach einer Zeit des „Dienens“ bei entsprechender Qualifikation für Unternehmen besonders attraktiv. „Aber dafür muss sich die Wirtschaft auf die Bundeswehr zubewegen, sich nach den Ausbildungsgängen und den Inhalten erkundigen, Bedarfe abgleichen. Der Schulterschluss müsste eigentlich gelingen.“

Für den Schulterschluss führt der Bilfinger-Chef vor Ort Gespräche, abends, wenn die Übungen, Vorträge und Veranstaltungen vorbei sind. Denn da ist ja immer noch Zeit fürs Zusammensein. „Wir sind auf Reservisten angewiesen“, sagt auch Steinhaus. „Insofern brauchen wir die Bereitschaft der Unternehmen, die Betroffenen tatsächlich für Wehrübungen freizustellen.“ Gleichwohl weiß er auch, dass das nur ein kleiner Baustein in der bevorstehenden, notwendigen Entwicklung zum Aufwuchs eines Heeres sein kann.




Überhaupt benötigen sie bei der Bundeswehr sehr viel mehr Personal. Die Personalstärke von gut 180.000 Soldatinnen und Soldaten reicht angesichts der Bedrohungslage nicht. 2029 könnte Putin so weit sein, die NATO an der Ostgrenze zu testen. Es sei denn, das Verteidigungsbündnis sei nachvollziehbar abschreckend in Ausrüstung und Personal, sagt Steinhaus. „Wir verzeichnen ein hohes Aufkommen an Menschen, die zu uns wollen.“ Die Zahlen geben ihm recht: Haben sich um Jahr 2023 noch 105.600 Interessierte bei der Bundeswehr für den zivilen und den militärischen Dienst beworben, waren es im vergangenen Jahr 139.500, eine Steigerung um 32 Prozent. Nur ob das für einen Aufwuchs reiche, der notwendig werde, um eine russische Bedrohung wirksam abzuschrecken, sei eine andere Frage. Viele wären heute nicht bei der Bundeswehr, hätten sie seinerzeit keinen Wehrdienst leisten müssen, meint Steinhaus auch. „Sicherheitspolitisch ist das natürlich noch keine hinreichende Begründung für die Wiedereinführung der Wehrpflicht.“ Die liege viel eher in der Notwendigkeit der Abschreckung, zu der nicht nur Kriegsgerät und technologische Fähigkeiten, sondern auch die Anzahl an Soldatinnen und Soldaten gehört. „Das ist eine neue Realität.“

Die „neue Realität“ ist der entscheidende Grund dafür, dass Bilfinger-Chef Thomas Schulz den Lehrgang belegt hat. Er ist einer jener Multiplikatoren, von denen sich die Bundeswehr viel verspricht. Im Konzern hat er seine Teilnahme über die internen Kanäle kommuniziert. Stolz hätten sich daraufhin einige Reserveoffiziere gemeldet und ihm sogar Fotos gemailt. Und Jessica Steiner? Die Landtagsabgeordnete hat auch schon öffentlich über ein Pflichtjahr für junge Leute diskutiert. Jetzt will sie in Sachen Verteidigungsfähigkeit noch sehr viel sprechfähiger werden.