Niemand weiß, wann das Zollabkommen zwischen Amerika und der EU nun wirklich in Kraft tritt oder ob es am Ende noch gerichtlich aufgehoben wird, aber eines hat die Einigung im schottischen Turnberry schon jetzt geklärt. Der oktroyierte „Giant Deal“, dem die EU-Kommissionspräsidentin mit honigsüßem Lächeln zugestimmt hat, war ein Akt der politischen Demütigung. Er illustriert, wie tief der alte Kontinent in der Krise steckt.
Das Brüsseler Gerede vom geopolitischen Player und der strategischen Autonomie wurde in anderen Teilen der Welt schon lange belächelt; man muss nur das europäische Wirken in der Ukraine und in Nahost betrachten. Aber nun erlebt die EU, dass auch ihr Ruf als ökonomische Großmacht leidet. Bezogen auf die Wirtschaftskraft gehört sie trotz Wachstumsschwäche noch immer zu den großen drei. Stets hieß es: Zumindest an Europas Wirtschaftsmacht kommt niemand vorbei. Dabei eilt Amerika schon lange davon, und China ist auf Überholkurs, und jetzt werden die Europäer auch noch vor aller Augen gezwungen, willkürlich erhobene Zölle zu akzeptieren und damit die Axt an jene Weltwirtschaftsordnung zu legen, die sie mitgeprägt haben: freie Märkte mit globalen Standards.
Sie taten das nicht, weil sie plötzlich mit Trumps Gutsherrenpolitik sympathisieren, sondern weil ihnen keine Wahl blieb: Ohne die Hilfe der Militärmacht USA sind sie unfähig, sich gegen einen Aggressor wie Wladimir Putin zu behaupten, weshalb sie es schon als Erfolg verbuchen müssen, dass die neuen – allein von Europa zu zahlenden – Zölle nicht noch höher ausgefallen sind.
Nicht mehr souverän handlungsfähig
Jahrzehnte selbstzufriedener, wenig vorausschauender Politik haben Deutschland und Europa erpressbar gemacht. Weil in Vergessenheit geriet, dass internationale Politik am Ende immer Machtpolitik ist, kann Europa nicht mehr souverän handeln. Im naiven Vertrauen darauf, dass Multilateralismus und Regelwerke ewig gelten werden, wurde versäumt, die Muskeln für den Wechselfall zu trainieren. Das bezog sich nicht nur auf die sträfliche Vernachlässigung der eigenen Sicherheit, sondern auch auf die mangelnde Absicherung des Rohstoff- und Energiebedarfs. Im ressourcenarmen Deutschland legte man mehr Wert darauf, in fernen Ländern Menschenrechte und Demokratie unter die Leute zu bringen, als dort strategische Abkommen abzuschließen. China, das es anders machte und sich mit seiner „Entwicklungshilfe“ Zugänge in aller Welt sicherte, wurde dafür oberlehrerhaft kritisiert. Es ließ sich nicht stören und beobachtete, vermutlich staunend, wie sich nicht zuletzt Deutschland ohne Not in Abhängigkeiten brachte, die es politisch teuer zu stehen kommen kann.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Aus Asien wird europäischen Politikern gern vorgehalten, die langen Linien zu übersehen und nur bis zur jeweils nächsten Wahl zu blicken. Darin mag sich auch Abneigung gegenüber demokratischen Prozeduren zeigen, aber die Kritik hat einen wahren Kern. Auch in einer Demokratie müsste die zentrale Frage verantwortungsvoller Politik diese sein: Wie wird die Welt in zwei Jahrzehnten voraussichtlich aussehen, und wie kann rechtzeitig umgesteuert werden, um in ihr zu reüssieren oder wenigstens nicht zu verlieren?
Es ist ein trauriges Muster europäischer Politik, dass sie sich nur unter unmittelbarem Druck zu substanziellen Veränderungen fähig zeigt. Es bedurfte des russischen Angriffs auf ein europäisches Land (und Daumenschrauben Donald Trumps), bis die Verteidigungspolitik wieder zu einer Priorität wurde. Zu Konsequenzen, die über die Erhöhung der Wehretats hinausgehen, reicht die Kraft in Deutschland dabei noch immer nicht. Die personelle Aufstockung der Streitkräfte schleppt sich, und weiterhin macht die Politik einen Bogen um die Schlüsselaufgabe europäischer Sicherheitspolitik: die Abschreckung durch Atomwaffen. Alle wissen, dass die Abhängigkeit von Amerika eine neue nukleare Architektur erzwingt, aber sobald ein Politiker, wie unlängst Unionsfraktionschef Jens Spahn, die Debatte beginnen will, wirft ihm der Koalitionspartner „abenteuerliches Denken“ vor, während ihn die eigene Partei ins Leere laufen lässt.
Nicht auf der Höhe der Zeit
Weit von den Notwendigkeiten entfernt, bewegt sich auch die Diskussion über die Reformen im Innern. Es mag ein Fortschritt sein, nicht mehr von einem Kanzler regiert zu werden, der Schutz vor jeglicher Veränderung verspricht. Aber die Umbaumaßnahmen, die Friedrich Merz verspricht und die wohl die SPD verwässern wird, sind nicht auf der Höhe der Zeit. Sie messen sich nicht an der Realität, dass Europa gerade auf vielen Feldern abgehängt wird, nicht zuletzt bei der Künstlichen Intelligenz. Stattdessen folgen sie den eingeschliffener Argumentationsmustern vergangener Tage. Die Bescheidenheit der Ziele, die im Berliner Diskursraum als radikal gelten, lassen nur zwei Schlüsse zu: Entweder man sieht nicht, wie sehr das Land international unter Druck geraten ist, oder man traut sich nicht zu, die Sache anzupacken.
Das Missverhältnis zwischen dem europäischen Offenbarungseid in Turnberry und der provinziellen Debattenlage in Berlin ist verstörend. Draußen verschieben sich die Erdplatten der Geopolitik, und in Berlin wird über die Eignung einer möglichen Verfassungsrichterin gestritten, oder über die Frage, ob ein etwas späterer Renteneintritt zumutbar ist. Man gewinnt den Eindruck, eine ganze Politikergeneration steckt den Kopf in den Sand.