Wenn die Regierung den Acht-Stunden-Tag abschafft

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Wenn es sich die Mitarbeiter vom Rettungsdienst aussuchen können, wählen sie die 24-Stunden-Schicht, erzählt Marc Dietrich. „Die lieben die Kollegen heiß und innig.“ Dietrich ist Vorstandssprecher des Deutschen Roten Kreuzes in Neuss in Nordrhein-Westfalen. „Mit zwei Schichten haben sie dann die wöchentliche Höchstarbeitszeit erreicht, haben also bis zu fünf Tage in der Woche frei.“

Das Problem für Dietrich: Es ist für ihn als Arbeitgeber riskant, dem Wunsch seiner Mitarbeiter zu entsprechen. Denn innerhalb ihrer Schicht dürfen sie nur höchstens zehn Stunden tatsächlich arbeiten, die restliche Zeit haben sie Bereitschaft. Wie zahlreich und lang die Einsätze in der Schicht werden, ist nicht vorhersehbar. „An manchen Tagen ist kaum etwas zu tun, an anderen kommen sie vom Rettungswagen gar nicht runter.“ Gerade arbeiteten die Kollegen „oft hart an der 10-Stunden-Grenze dran“.

Er achte penibel auf die Arbeitszeiten der Sanitäter und darauf, dass es nicht zu Überschreitungen kommt. Wenn dann nämlich etwas schiefginge, würde er persönlich dafür haften. „Aber man kann natürlich einen laufenden Einsatz nicht einfach unterbrechen, weil die Uhr tickt.“ Was sich Dietrich wünschen würde: mehr Flexibilität bei der täglichen Höchstarbeitszeit. „Müsste man denn wirklich den Katastrophenfall ausrufen, wenn ein Kollege an zwei oder drei Tagen im Monat mal etwas länger arbeiten würde?“

Das ist eine Frage, die sich viele Arbeitgeber und auch so manche Arbeitnehmer stellen. Acht Stunden hat der normale Arbeitstag in Deutschland, bis zu zehn dürfen es sein, wenn innerhalb eines halben Jahres der werktägliche Durchschnitt nicht über acht Stunden liegt, die Mehrarbeit also durch Freizeit an anderen Tagen ausgeglichen wird. Mehr als zehn Stunden sind nur in Ausnahmefällen möglich, die streng geregelt sind. Eine Gesetzgebung, die wie Dietrich und seine Mitarbeiter viele als zu starr empfinden – und deren Reform sich die schwarz-rote Koalition vorgenommen hat.

Mehr Flexibilität an den einzelnen Wochentagen

Dabei will sich die Regierung künftig stärker an den europäischen Vorgaben orientieren. Statt einer täglichen Höchstarbeitszeit ist darin die wöchentliche Höchstarbeitszeit maßgeblich. ­Diese liegt in der EU bei höchstens 48 Stunden, zudem sind Ruhezeiten von mindestens elf Stunden zwischen den Arbeitstagen festgelegt. Das macht maximal 13 Stunden am Stück, inklusive Pausen.

Schon jetzt läuft eine hitzige Debatte um das Vorhaben: „Das könnte bei gleichzeitigem Festhalten an der Mindestruhezeit bedeuten, dass in einigen Branchen die 13-Stunden-Schicht zum Standard wird“, warnte Yasmin Fahimi, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), im April im F.A.S.-Interview.

Die Arbeitgeberseite wiederum hält es für unrealistisch, dass der 13-Stunden-Tag zum neuen Normalfall wird. „Aber diese Neuerung würde Beschäftigten die Möglichkeit geben, die Arbeitszeit flexibler über die Woche zu verteilen“, so Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Für die Arbeitgeber hätte eine Aufweichung der Regel den Vorteil, dass sich Auftragsspitzen und kurzfristige Personalausfälle besser bewältigen ließen. „Aufträge mit längeren Anfahrten könnten so gebündelt und besser abgearbeitet werden, während an anderen Stellen Raum für Ausgleich entsteht“, heißt es vom Zentralverband des Deutschen Handwerks.

Planbarkeit und Freiwilligkeit sind wichtig

Die Arbeitnehmer sind gespalten in der Frage, ob die Stundengrenze für ihre Arbeitstage weiterhin gelten soll. Das häufig vorgebrachte Argument der Vereinbarkeit von Familie und Beruf lässt sich schließlich in beide Richtungen auslegen. Der spontan angeordnete 13-Stunden-Tag stellt die Planung des Privatlebens auf den Kopf. Andererseits ermöglicht Mehrarbeit, wenn die Kinder ohnehin anderweitig betreut sind, mehr Zeit mit der Familie an den anderen Tagen. „Eine Flexibilisierung der täglichen Höchstarbeitszeit ist grundsätzlich gut“, sagt Nicole Beste-Fopma, Vorsitzende des Bundesverbands Vereinbarkeit, der sich dafür einsetzt, Privatleben und Beruf besser unter einen Hut zu bringen. „Aber es ist ganz entscheidend, dass zwei Dinge gegeben sind: Planbarkeit und Freiwilligkeit.“

Wenn dies nicht der Fall ist, sei eine solche Aufweichung eher eine weitere Hürde für die Vereinbarkeit. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind 73 Prozent der Deutschen gegen eine unbegrenzte tägliche Arbeitszeit, 34 Prozent wären dagegen bereit, an einzelnen Tagen länger als 10 Stunden zu arbeiten.

Bereits heute gibt es etliche Deutsche, die das zumindest gelegentlich tun. Mancher fällt unter die strengen Ausnahmeregelungen, etwa im Gesundheitswesen. Andere machen es einfach ohne rechtliche Grundlage: weil sie abends noch länger an ihrer Präsentation arbeiten oder auf dem Rückweg von der langen Dienstreise die Zugfahrt nutzen, um ihre E-Mails abzuarbeiten, damit sie am nächsten Tag mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen können. Für ihre Arbeitgeber würde eine Flexibilisierung zugunsten einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit rechtliche Sicherheit bieten.

Die Gewerkschaften sind gegen das Vorhaben. „Man kann bis zu zehn Stunden am Tag arbeiten und bis zu 60 Stunden in der Woche, bis zu 13 Tage am Stück. Das sind schon große Flexibilitäten, finde ich“, sagt Christiane Benner, Vorsitzende der IG Metall. Im Rahmen von Tarifverträgen könnten Beschäftigte unter bestimmten Umständen sogar die Ruhezeit auf neun Stunden verkürzen – wenn sie nämlich selbst über Beginn und Ende ihrer Arbeit bestimmen können. „Dazu gibt es in den Betrieben Zeitkonten, die für Mehrarbeit und Ausgleich genutzt werden können.“

Ohnehin sei es derzeit vielmehr ein Problem, die Produktion überhaupt auszulasten. Die Diskussion sei eine „politische Nebelkerze“. Nicht zuletzt verweisen die Gegner des Koalitionsvorhabens auf die Gesundheit der Beschäftigten. Schutzmechanismen wie die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit hätten sich die Gewerkschaften über viele Jahrzehnte erarbeitet und erkämpft. „Die werden wir nicht aufgeben.“

Gute Gründe für eine andere Sichtweise

Steffen Kampeter vom BDA wiederum meint: „Das Arbeitszeitgesetz bildet das Miteinander der Arbeitgeber und Beschäftigten heutzutage nicht mehr ausreichend und angemessen ab. Wir sollten den Rahmen nutzen, den die Arbeitszeitrichtlinie der EU uns ermöglicht.“ Er verweist darauf, dass es eine tägliche Höchstarbeitszeit wie in Deutschland in vielen europäischen Nachbarländern nicht gebe. „Dass Deutschlands Arbeitnehmer erschöpfter sein sollen als die in Italien oder Spanien, glaube ich nicht.“ Die Ruhezeit von elf Stunden begrenze gleichzeitig die täglichen Arbeitsstunden und gewährleiste so einen ausreichenden Gesundheitsschutz.

Die Positionen in der Debatte sind auf den ersten Blick nicht überraschend. Doch beide Seiten hätten ebenfalls gute Gründe für eine andere Sichtweise: „Es gibt klare Indizien, dass das Risiko für psychische und körperliche Erkrankungen sowie für Unfälle langfristig steigt, wenn man häufig länger als acht Stunden arbeitet“, sagt der Arbeitspsychologe Dirk Windemuth. Und Personalausfälle kosten den Arbeitgeber Geld. Zudem zeigen Studien, was wohl ein jeder aus eigener Erfahrung weiß: dass die Konzentration nach einer gewissen Zeit eben nachlässt, die Fehleranfälligkeit höher wird. Es entstehen Fehlanreize, wenn Leute ihre unproduktiven Stunden am Tagesende bloß absitzen, um etwa freitags früher gehen zu können. Der BDA sieht diese Gefahr nicht: In der Regel bestimme der Betrieb über Mehrarbeit. „Ein erhöhtes Missbrauchspotential existiert daher nicht“, so Kampeter. „Zudem gehen wir davon aus, dass wir loyale und pflichtbewusste Beschäftigte in den Betrieben haben.“

Die Gewerkschaften könnten wiederum begrüßen, dass ihre Mitglieder mehr muntere, wertvolle Zeit mit ihrer Familie verbringen statt nur die müden Abendstunden unter der Woche. Dass sie überhaupt mehr Möglichkeiten erhalten würden, sich ihre Arbeitszeit einzuteilen. Es gibt schließlich durchaus Leute, die ihre Vollzeitstelle lieber an vier Wochentagen verrichten würden, mit entsprechend längeren Arbeitszeiten. Oder die für ihre Karriere die Extrameile gehen wollen, vielleicht auch nur für ein paar Monate. Wissen die also einfach nicht, was gut für sie ist? So zumindest klingt es bei Steffen Kampeter: „Unter dem Vorwand, Beschäftigte vor Selbstausbeutung zu schützen, ziehen wir bei allen anderen die Handbremse an.“

Eine Differenzierung ist wichtig

Christiane Benner widerspricht: „Es liegt uns fern, Menschen, die etwas leisten wollen, nicht leisten zu lassen“, sagt die Gewerkschaftlerin. „Wir fördern Leistung durch gute Arbeitsbedingungen.“ Es geht in der Diskussion auch um die Angst vor potentieller Willkür der Betriebe. „Ich hätte durchaus die Befürchtung, dass sich Modelle wie dreimal 13 Stunden, inklusive Pausen, in einigen Bereichen durchsetzen könnten“, sagt Benner. „Arbeitgeber wollen sich so für Beschäftigte auf Montage beispielsweise Hotelkosten oder Verpflegung sparen.”

Die Abwägung zwischen Schutz und Freiheit der Arbeitnehmer ist schwieriger geworden, weil die Arbeitswelt viel heterogener ist als 1918, in dem Jahr, in dem sich die Arbeiterbewegung den Acht-Stunden-Tag erkämpfte. Eine stärkere Differenzierung ist innerhalb von Tarifverträgen und bestimmten Branchen möglich, gerät allerdings in anderen Fällen schnell an ihre Grenzen. Sinnvoll wäre sie: So hat eine jüngst veröffentlichte Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft bei Bürobeschäftigten mit einer hohen Arbeitszeitsouveränität keinen Zusammenhang zwischen langen Tagesarbeitszeiten und negativen Auffälligkeiten wie geringerer Arbeitszufriedenheit, mehr Krankheitstagen oder Erschöpfung feststellen können. „In dieser Personengruppe laufen wir keine Gefahr, durch eine Aufweichung der täglichen Höchstarbeitszeit die Büchse der Pandora zu öffnen“, resümiert Studienautor Oliver Stettes.

Auch Arbeitspsychologe Windemuth sagt: Die gesundheitlichen Risiken von Mehrarbeit seien tendenziell geringer, wenn die Beschäftigten selbst über ihre Arbeitszeit bestimmen können.

Hierauf legt auch Marc Dietrich vom Deutschen Roten Kreuz in Neuss Wert: Selbstverständlich müsse niemand eine so lange Schicht übernehmen. „Die Einsätze würde ich auch weiter nicht so eng takten und mehrere Rettungswagen im Einsatz haben.“ Der Schutz der Arbeitnehmer dürfe nicht gemindert werden. „Aber es gibt Leute, die können und wollen länger arbeiten.“