Union und SPD wollen die politische Sommerpause dafür nutzen, einer Lösung des Streits über die verschobenen Bundesverfassungsrichterwahlen näher zu kommen. Einfach wird das nicht: Selbst wenn sich die Koalitionspartner auf ein für beide Seiten tragfähiges Personalpaket verständigt haben, sind noch Gespräche mit weiteren Fraktionen notwendig. Anders ist die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag für die Richterkandidaten nicht zu erreichen. Grüne und Linke werden für ihre Zustimmung einen Preis verlangen.
Die rechtspolitische Sprecherin der Linken, Clara Bünger, hat bereits vor Wochen in der F.A.Z. „perspektivisch ein eigenes Vorschlagsrecht für die Linke zur Verfassungsrichterwahl“ gefordert. Bünger hat damit nicht beansprucht, ihre Partei bei den aktuell zu besetzenden drei Richterstellen zu berücksichtigen. Sie möchte aber mittelfristig den Verteilungsschlüssel zwischen den Parteien für die Besetzung des Gerichts verändern.
Dieser Verteilungsschlüssel ist nirgendwo festgeschrieben. Gesetzlich ist lediglich geregelt, dass Bundestag und Bundesrat jeweils die Hälfte der 16 Verfassungsrichter mit Zweidrittelmehrheit wählen. Dass sich für die Richterwahl eine politische Farbenlehre entwickelt hat, ist darauf zurückzuführen, dass bisher nie eine Partei allein die notwendigen Stimmen zusammenbekommen hat. Schon 1951 waren die Politiker auf Kompromisse angewiesen, als sie über die Erstbesetzung des Karlsruher Gerichts zu entscheiden hatten. Der damalige Bundesverfassungsrichter Willi Geiger schrieb in einem Aufsatz, die damals 24 Richterstellen seien so aufgeteilt worden, dass Union und SPD jeweils acht Richter benannt hätten und die übrigen acht Plätze im gegenseitigen Einvernehmen vergeben wurden.
Absprache von Union und SPD 1975
Ein fester Verteilungsschlüssel war das noch nicht: In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es immer wieder Debatten, wer die Nachfolge für ausgeschiedene Richter bestimmen dürfe. Manchmal dauerte es Monate, bis sich die Politik verständigt hatte. Um solche Hängepartien zu vermeiden, trafen Union und SPD 1975 eine langfristige Absprache. Beide Volksparteien räumten sich untereinander für künftige Wahlen in beiden Senaten ein Vorschlagsrecht für jeweils vier Richterplätze ein. Dabei gab es zwei Einschränkungen: Zum einen sollte jene Partei, die in Bonn mit der FDP regierte, dieser einen Richterplatz „abtreten“, sodass zumindest in einem der Senate stets ein liberaler Kandidat vertreten sein sollte. Zum anderen war das Vorschlagsrecht für die jeweils vier Richterplätze so auszuüben, dass drei „Parteigänger“ und ein „neutraler Richter“ nominiert werden.
Damit reagierten die Parteien auf Kritik, in der Vergangenheit zu viele ehemalige Politiker nach Karlsruhe geschickt zu haben. Die Stelle der neutralen Richter sollte sicherstellen, dass auch Staatsrechtslehrer berücksichtigt werden. Schon bald zeigte sich allerdings, dass Professoren ebenso wie Politiker polarisieren können. Auch die Vereinbarung, sich im Falle der Parteigänger untereinander mehr Beinfreiheit bei der Kandidatenkür zuzubilligen als für die neutralen Plätze, war nicht allzu tragfähig. Alle Kandidaten sind schließlich darauf angewiesen, die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Im Laufe der Jahre wurde die Differenzierung zwischen Parteigängern und Neutralen deshalb unwichtiger. Willi Geiger schrieb bereits 1987 von einer „blödsinnigen Unterscheidung“. Die 4:4-Regelung hatte trotzdem jahrelang Bestand.
Wie die Grünen zum Vorschlagsrecht kamen
Eine kleine Änderung bewirkte erst die Bundestagswahl 1998. Erstmals seit 1969 war die FDP nicht mehr an der Regierung beteiligt. Stattdessen bildeten Gerhard Schröder und Joseph Fischer eine rot-grüne Koalition. Die Grünen machten schnell klar, künftig ebenfalls einen Vorschlag für Karlsruhe machen zu wollen. 2001 wurde der von ihnen vorgeschlagene Staatsrechtsprofessor Brun-Otto Bryde Bundesverfassungsrichter. Ein FDP-naher Richter war von 2006 an hingegen nicht mehr in Karlsruhe vertreten. Das änderte sich erst wieder 2010, als das FDP-Mitglied Andreas Paulus zum Verfassungsrichter gewählt wurde. In Berlin regierte wieder Schwarz-Gelb.
Das bedeutete allerdings nicht, dass die Grünen ihren Platz in Karlsruhe aufgaben. Zu Brydes Nachfolgerin wurde ein Jahr später Susanne Baer gewählt – ebenfalls auf Vorschlag der einstigen Außenseiterpartei. 2020 wählte der Bundesrat mit Astrid Wallrabenstein einen weiteren grünen Wahlvorschlag als Nachfolgerin für einen SPD-Platz. Während der Regierungszeit der Ampelkoalition gelang es auch der FDP, einen zweiten Richterplatz zu ergattern – auf Kosten der Union. Eine 3:3:1:1-Verteilung der Richterplätze in jedem Senat hat seither den 4:4-Schlüssel ersetzt.
Dass es so gekommen ist, liegt an den geringeren Stimmanteilen, die Union und SPD in Bund und Ländern zusammen erreicht haben. Sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat sind die einstigen Platzhirsche im Parteiensystem zumindest auf die Grünen angewiesen, um eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Im Bundestag reicht selbst das nicht mehr aus. Sollte die Bundestagswahl 2029 die Mehrheitsverhältnisse nicht gravierend verändern, werden die Linken spätestens 2033 einen Richter vorschlagen wollen. Dann tritt der von der FDP nominierte Verfassungsrichter Heinrich Amadeus Wolff in den Ruhestand. Folgte ihm ein von den Linken vorgeschlagener Richter, würde dies zu einer rot-grün-roten Mehrheit im Ersten Senat führen. Gleichzeitig wäre die AfD weiterhin nicht in Karlsruhe vertreten – obwohl sie seit der Bundestagswahl 2017 stets zweistellige Ergebnisse erreicht hat.