Streit über Abtreibungen: Inkonsistenzen, die befrieden sollen

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Der Bundestag macht Sommerpause. Und auch die Debatte um die von der SPD für das Verfassungsgericht nominierte Frauke Brosius-Gersdorf scheint vorerst zu ruhen. Über die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs streiten Union und SPD derweil weiter.

Anlass ist ein dröger Satz, auf den sich die Parteien im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Dort heißt es: „Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus.“ Der Passus klingt harmlos. Und nicht allen Verhandlern in der Union dürfte bewusst gewesen sein, dass er eine Wucht entfalten könnte und der SPD als Vehikel für eine neuerliche Debatte über die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen dienen würde. Bislang fand die Formulierung auch kaum Beachtung.

Die Causa Brosius-Gersdorf

Geändert hat sich das, seit Brosius-Gersdorf bei Markus Lanz auftrat und dort auf den Koalitionsvertrag aufmerksam machte. Darin stehe „im Ergebnis“ genau das, was sie selbst vorgeschlagen habe, sagte die Staatsrechtlerin. Dann führte sie aus: Die Formulierung könne sich nur auf die Frühphase von Schwangerschaften beziehen. Allerdings dürfe es eine Leistungspflicht nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur geben, wenn ein Abbruch rechtmäßig sei. Der Koalitionsvertrag, so schlussfolgerte Brosius-Gersdorf, gehe also davon aus, dass der Abbruch (anders als bisher) in der Frühphase rechtmäßig sei. Das heiße: „Im Ergebnis passt zwischen den Koalitionsvertrag und meine wissenschaftliche Position kein Blatt.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Brosius-Gersdorf spielte im ZDF auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 an, die der aktuellen Regelung zum Schwangerschaftsabbruch zugrunde liegt. Darin urteilten die Richter, dass der Abbruch „für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht“ anzusehen und rechtlich zu verbieten sei. Ausdrücklich hielten sie fest, dass Abtreibungen, die in den ersten zwölf Wochen nach der Beratungsregel vorgenommen würden, rechtswidrig seien.

Darüber hinaus machten die Richter dem Gesetzgeber ungewöhnlich detaillierte Vorgaben. Unter anderem hielten sie fest, dass es dem Staat grundsätzlich untersagt sei, „durch die Gewährung von Leistungen oder durch die normative Begründung von Leistungspflichten Dritter Schwangerschaftsabbrüche zu fördern, deren Rechtmäßigkeit nicht verbindlich festgestellt worden ist“. Ausnahmen sollte es nur für Frauen geben, die finanziell bedürftig seien. Die Gewährung einer solchen „Sozialleistung“ stehe nicht in Widerspruch zur staatlichen Schutzpflicht.

SPD und CDU uneins

Vor diesem Hintergrund ziehen SPD-Politikerinnen wie Carmen Wegge aus dem Passus im Koalitionsvertrag denselben Schluss wie Brosius-Gersdorf: Eine Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen könne es nur geben, wenn der frühe Abbruch rechtmäßig werde. Anders sieht es die CDU-Politikerin Elisabeth Winkelmeier-Becker. Sie verweist darauf, dass Union und SPD vereinbart hätten, den Strafrechtsparagraphen 218 unverändert zu lassen. In den Koalitionsvertrag könne „nichts anderes hineininterpretiert werden“.

Dass eine Leistungspflicht der Krankenversicherungen dem Urteil von 1993 widersprechen würde, ist nicht zu leugnen. Bislang stehen die gesetzlichen Regelungen auch insofern in Einklang mit dieser Entscheidung. Widerspruchsfrei sind sie nicht.

Das Strafgesetzbuch stellt den Schwangerschaftsabbruch in Paragraph 218 unter Strafe; Paragraph 218a Absatz 1 regelt, unter welchen Bedingungen er straflos bleibt: Die zwölfte Schwangerschaftswoche darf nicht überschritten sein, die Schwangere muss sich beraten lassen, danach müssen mindestens drei Tage vergehen, und der Abbruch muss von einem Arzt durchgeführt werden. Absatz 2 und 3 regeln, wann ein Abbruch nicht nur straflos, sondern auch rechtmäßig ist. Hier geht es um medizinische und kriminologische Indikationen: Für die Schwangere muss Lebensgefahr bestehen oder eine schwerwiegenden Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit drohen. Rechtmäßig ist ein Abbruch außerdem, wenn der Schwangerschaft eine Sexualstraftat vorausging.

Abbrüche bei andeutender Behinderung des Kindes rechtmäßig

Unter die medizinische Indikation fallen auch Fälle, in denen sich eine Schwangere darauf beruft, eine sich andeutende Behinderung des Kindes nicht ertragen zu können. Es kann um schwerste körperliche Schäden gehen, die erwarten lassen, dass das Kind nur äußerst kurz am Leben bleibt, oder um Behinderungen wie Trisomie 21. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in dieser für werdende Eltern existenziellen Notlage bis unmittelbar vor der Geburt nicht nur möglich – sondern rechtmäßig.

Behindertenverbände kritisieren diesen Aspekt regelmäßig. In der aktuellen Debatte tauchte er kaum auf. Unberechtigte Vorwürfe, die Brosius-Gersdorf gemacht wurden, riefen ihn allerdings in Erinnerung. Die Staatsrechtlerin hatte in mehreren Stellungnahmen geschrieben, gute Gründe sprächen dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab der Geburt gelte. Der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts widerspricht das. Brosius-Gersdorf äußerte auch: Selbst wenn man von einer vorgeburtlichen Geltung der Menschenwürdegarantie ausginge, sprächen „gewichtige Argumente dafür, dass die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre“. Das Grundrecht auf Leben hat Brosius-Gersdorf dem Embryo nie abgesprochen. Die Schutzpflichten, die sich daraus ergäben, müssten mit den Grundrechten der Mutter in Einklang gebracht werden, abgestuft, je nach Dauer der Schwangerschaft, meint die Juristin.

Naturrechtlich begründeter Lebensschutz?

Politiker wie Beatrix von Storch von der AfD leiteten aus einzelnen Sätzen ab, dass Brosius-Gersdorf legale Abtreibungen bis unmittelbar vor der Geburt befürworte. Das hat sie nie getan. Der Vorwurf war nicht nur unberechtigt; er weckte auch falsche Vorstellungen vom im Deutschland geltenden Lebensschutz. Denn mit Blick auf Behinderungen erlaubt das Strafrecht Abtreibungen bis zum Ende der Schwangerschaft.

Früher griff das Gesetz die „embryopathische Indikation“ explizit auf. Das änderte sich 1995, als die Kritik von Behindertenverbänden auf den Wortlaut des Gesetzes durchschlug. Praktisch hat sich nichts geändert. Fälle „embryopathischer Indikationen“ sollten ausweislich der Gesetzesbegründung von CDU und CSU künftig unter die allgemeinere medizinische Indikation fallen, Spätabtreibungen also möglich bleiben. Mit naturrechtlich begründetem Lebensschutz, wie ihn CDU-Politikerin Winkelmeier-Becker jüngst in der F.A.Z. gegen Brosius-Gersdorf vorbrachte, dürfte das kaum zu vereinbaren sein.

Das alles steht nicht im Fokus der aktuellen Diskussion. Darin geht es vielmehr um den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen, der den Karlsruher Maßgaben folgend rechtswidrig, aber straflos ist. Es ist ein Konstrukt, dem die meisten Strafrechtslehrer erhebliche Widersprüchlichkeiten attestieren. Zu ihnen zählen auch Wissenschaftler, die die Regelung im Ergebnis befürworten.

Inkonsistenzen seien in Kauf zu nehmen

Von diesen Widersprüchen sind auch andere Vorgaben geprägt, die das Verfassungsgericht 1993 machte. So schrieben die Richter vor, dass der Vertrag zwischen Schwangerer und Arzt über den rechtswidrigen Abbruch wirksam sein solle – obwohl das Zivilrecht mit verbotenen Geschäften eigentlich anders umgeht. Den Staat verpflichteten sie, „ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot“ zur Vornahme von Abbrüchen sicherzustellen. Lauter Anordnungen, die mit rechtswidrigen, verbotenen Handlungen nicht in Einklang zu bringen sind.

Nach dem Urteil äußerten Kritiker deshalb nicht nur Unverständnis über die in ihren Augen zu gering geschätzte Autonomie der Schwangeren. Sie bemängelten auch die dogmatischen Inkonsistenzen.

Diejenigen, die die bisherige Regel dennoch befürworten, argumentieren: Wo sich Konflikte nicht sauber auflösen ließen, seien Inkonsistenzen nun einmal in Kauf zu nehmen. Zu hören ist in diesem Zusammenhang eine Redewendung, die wohl auf Martin Luther zurückgeht. Sie besagt, dass man dann und wann „durch die Finger sehen“ und auf letzte Konsequenz verzichten sollte, um der komplizierten Wirklichkeit des Lebens Rechnung zu tragen.

Wieder andere argumentieren mit dem gesellschaftlichen Frieden. Auch in dessen Sinne seien Inkonsistenzen hinzunehmen. Offen bleibt dabei, wie sich gesellschaftlicher Friede bemisst, wer bestimmt, wann er bedroht und wie er zu wahren ist – wo schon über individuelle Konfliktlagen betroffener Frauen Generelles kaum zu sagen ist.