Herr Norberg, leben wir in einem Goldenen Zeitalter?
Das sieht nicht jeder so.
Da haben Sie recht. Aber wenn Sie die Geschichte studieren, dann macht das mit Ihnen zweierlei. Sie werden ein bisschen zynisch, weil Sie sehen, was Menschen einander alles antun. Aber Sie werden auch ein bisschen optimistisch, weil wir in einem bemerkenswerten Zeitalter leben: Die Armut geht zurück, die Gesundheit verbessert sich, die Freiheit des Einzelnen wächst. Zum ersten Mal geschieht das nicht nur in einer einzelnen Region, sondern weltweit. Vor 200 Jahren waren neun von zehn Menschen auf der Welt extrem arm, jetzt ist es nur noch einer von zehn. Das ist sicher ein Goldenes Zeitalter. Die einzige Frage ist, ob wir es bewahren können.
In letzter Zeit sieht es nicht mehr so gut aus.
Stimmt. Solche Phasen gab es immer wieder, auch das lernt man. Es gibt lange Serien von Krisen und Problemen. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? In den vergangenen 25 Jahren haben wir viele Schrecken gesehen; eine Pandemie, große Finanzkrisen, Russlands Überfall auf die Ukraine, endloses Chaos im Nahen Osten. Gleichzeitig hat sich die Kindersterblichkeit halbiert, und jeden Tag sind 100.000 Menschen aus extremer Armut aufgestiegen. Es gibt also noch Themen, bei denen wir vorankommen – auch wenn ich Anzeichen für Schwierigkeiten sehe. Es gibt mehr Autoritarismus, und möglicherweise bricht die regelbasierte Ordnung des internationalen Handels zusammen.

Und was machen wir jetzt?
Nach dem zweiten Weltkrieg hatten wir eine nie dagewesene Ära von relativem Frieden und Fortschritt. Aber Amerika als Garant dieser Weltordnung scheint von dieser Rolle genug zu haben, nicht zuletzt haben sie es satt, dass wir dazu so wenig beitragen. Jetzt ist die Frage: Haben wir es in uns? Deutschland, Schweden, ganz Europa hat in dieser Weltordnung große Fortschritte erzielt. Verstehen wir, dass das unser Moment ist, dass wir das jetzt voranbringen müssen?
Die Probleme liegen nicht nur in den USA. Autoritäre Tendenzen gibt es in vielen Ländern, in einigen schon vor Trump.
Stimmt, das geht schon ungefähr seit 2010 so. Das hat zum Teil mit der Finanzkrise zu tun. Vorher wollten viele Länder den Westen imitieren und bei einem demokratischem System freier Märkte ankommen. Dann dachten sie, dass die Finanzkrise die Schwächen dieses Systems zeigt.
Einige Teile unseres Finanzsystems waren offensichtlich nicht robust. Wir waren zu sehr Helikoptereltern für die Finanzindustrie, die irgendwann dachte, sie könnte jedes Risiko eingehen und werde nach jedem Fehler gerettet. Das begann schon in den Achtzigern. Aber das heißt nicht, dass liberale Demokratie und freie Märkte mit solchen Problemen nicht umgehen könnten. Wir haben noch keine Alternative gefunden, die ihren Bürgern den gleichen Fortschritt bringt. Menschenwürde und individuelle Freiheiten gibt es dort noch viel weniger.

Und Sie sagen: Jetzt ist Europa dran.
Europa muss die Fackel weitertragen. Eine regelbasierte Ordnung, in der man sich nicht bekriegt, sondern handelt und verhandelt: Das war das Modell der alten holländischen Republik, das dann nach Großbritannien kam und mit den britischen Kolonisten nach Amerika. Das ist europäisches Kulturerbe seit der Aufklärung. Und wir haben davon profitiert. Aber aus irgendeinem Grund haben wir nie unseren Teil der Verantwortung getragen, nicht einmal wenn es um die Verteidigung europäischer Demokratien geht. Das ist auch ein Erbe des Zweiten Weltkriegs, die europäischen Länder lagen in Trümmern und hatten nicht die Ressourcen. Aber wir hätten mehr Verantwortung übernehmen und unsere Ideen verbreiten sollen. Wir hätten Verbündete gehabt: die ostasiatischen Demokratien, Australien, Kanada und Lateinamerika. Jetzt muss Europa die Führung übernehmen und nicht mehr so tun, als wären wir immer von den USA abhängig.
Sie klingen, als gehe Ihre Vorstellung über die Verteidigung hinaus.
Es geht um die internationalen Institutionen, zum Beispiel die Welthandelsorganisation. Europa hat schon vorsichtig angefangen, einen Plan B für einen neuen Streitbeilegungsmechanismus auszudenken . . .
. . . mittels dem die USA seit Jahren die Welthandelsorganisation lahmlegen. Aber ist Europa stark genug? Sie nennen das in Ihrem neuen Buch die angelsächsische Tradition, aber Europa war immer stolz darauf, etwas anders zu sein.
Das kam durch die holländische Invasion. In weiten Teilen des 17. Jahrhunderts hatte Großbritannien noch keinen Rechtsstaat. In der „Glorious Revolution“ von 1688 wurden die Stuart-Könige abgesetzt, und das Parlament erhielt mehr Macht. Aber das war keine Revolution. Es war eine Invasion der Niederländer unter Wilhelm III. von Oranien, der rund 500 Schiffe über den Ärmelkanal schickte, auch auf Einladung von Parlamentariern. Jedenfalls gab es diese Ideen, über die wir hier sprechen, nicht nur in angelsächsischen Ländern.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Wir sind sehr stolz auf unsere KI-Regulierung, aber nicht auf unsere KI-Firmen, weil wir davon nicht so viele haben. Wir haben zu viel Wert auf Sicherheit gelegt. Die Gefahr ist: Das garantiert langfristig kein komfortables Leben, wenn wir nicht die Motoren für Wachstum und Innovation finden, die uns die nötigen Einnahmen sichern. Die gute Nachricht ist: Es fehlt uns nicht an den Menschen oder der Energie dafür. Ich treffe viele großartige europäische Unternehmer. Die schlechte Nachricht ist: Viele davon treffe ich in Kalifornien, weil sie dorthin gezogen sind. Aber wir dürfen nicht aufgeben, wir haben die Energie und das Momentum in Europa.
Wenn die Märkte zu frei sind und der Fortschritt zu schnell ist, schadet das dann nicht dem Klima und der Umwelt?
Wir müssen weitergehen zu grüneren Energiequellen, und wir brauchen mehr Innovation, damit es billiger wird – dabei hilft uns Solarenergie ebenso wie Nuklearenergie. Wir können Emissionen senken, und die Wirtschaft kann trotzdem wachsen. Ungefähr 40 Länder auf der Welt schaffen das schon.
Dazu gehören eben Deutschland und einige andere europäische Länder.
Wir müssen noch ein bisschen schneller wachsen, damit wir den künftigen Anforderungen von alternder Bevölkerung und Verteidigung gewachsen sind. Wir können uns den Weg in die Zukunft nicht nur mit Schulden erkaufen. Denken Sie immer daran: Ohne die Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte würde es uns nicht besser gehen. Es gibt zwar heute nicht weniger Naturkatastrophen als früher, aber es sterben viel weniger Menschen daran, weil wir bessere Technik haben. Wir müssen also nicht auf die Bremse treten, sondern schneller werden.
Wie bekommen wir diesen Innovationsgeist?
Die schlechte Nachricht ist: Oft wird man innovativ, weil man nur wenig hat und zur Innovation praktisch gezwungen wird. Die Niederländer mussten zur See fahren und handeln, weil sie nicht genug Land hatten, um ihre Nahrung anzubauen. Wenn es einem gut geht und die Gesellschaft altert, dann wird die Denkweise – wie der griechische Historiker Thukydides sagte – weniger athenisch, man geht nicht mehr auf Entdeckungsreise und findet Neues. Sondern mehr spartanisch, man bleibt zu Hause und schützt, was man schon hat. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir so viele Schocks erlebt haben. Aber diese Denkweise müssen wir ändern.
Was würde dann geschehen?
Wir sind stark, wenn unsere Märkte offen sind. Daran müssen wir immer denken. Wir waren zu konzentriert darauf, unsere alten Branchen zu schützen, zum Beispiel die Autohersteller in Deutschland und Frankreich, die Bauern. Wir reden ständig über diese Wirtschaftszweige. Wir sollten stattdessen mehr darüber sprechen, wie wir die nächsten tollen Unternehmen bekommen.
Ihrer Analyse der Goldenen Zeitalter zufolge braucht es Migration und intellektuellen Austausch. Damit haben auch manche Länder in Europa zu kämpfen.
Vielleicht kommt das Momentum gerade mehr aus Ost- und Mitteleuropa, aus dem Baltikum und aus Polen, die in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht haben. Polen ist inzwischen so reich wie Japan. Die Leute dort haben die ärmeren Zeiten noch erlebt. Sie wissen, wie wichtig Wachstum und Innovation sind. Sie können uns zeigen, wie man aus der Komfortzone kommt.
Auch Polen ist nicht mehr so weltoffen, wie es einmal war.
Die richtigen Ideen setzen sich nicht immer durch, auch das haben wir aus der Geschichte gelernt. Es gibt einen ständigen Kampf um die Seele jeder großen Kultur, zwischen der athenischen und der spartanischen Denkweise. Im Moment gewinnt Europa diesen Kampf nicht. Und ich sehe beunruhigende Anzeichen dafür, dass wir nicht genau hinschauen, was funktioniert. Wir denken gerade eher wie die Spartaner, aber wir müssen mehr wie die Athener denken. Wir sind zufrieden, wollen unser Leben schützen und die Zeit anhalten. Das ist normalerweise der Anfang des Verfalls. Denn es geht wie im Sprichwort: Die Dinge müssen sich ändern, damit sie so bleiben, wie sie sind. Wir müssen die alten Techniken und Geschäftsmodelle sterben lassen – und neue, bessere erfinden.