Die AfD jagt die Union; so hat sie es vor Jahren angekündigt, und so geschieht es nun. Doch die Gejagte stelzt umher, als sehe sie erst Handlungsbedarf, wenn sie zwischen den Zähnen des Jägers zappelte. Jüngstes Beispiel: der Fall Brosius-Gersdorf.
Die Union ist planlos. Über den Sommer will sie eine Lösung finden, am besten finden lassen durch den freiwilligen Rückzug der Verfassungsrichterkandidatin. Der Plan der AfD dagegen liegt vor. Sie verschickt ihn sogar an Journalisten, so wenig geheim ist er.
Die Pointe: Er funktioniert trotzdem. Auf Seite 9 der zugehörigen Präsentation ist ein vielsagendes Bild zu sehen. Links der Kopf von SPD-Chef Klingbeil, rechts jener von CDU-Kanzler Merz. Dazwischen fährt grell ein Blitz: Streit, Trennung, soll der besagen. Darunter im Klartext das Ziel: „Die Gegensätze zwischen Union und SPD unüberbrückbar machen“. Heißt: Eigentlich sind sie überbrückbar. Aber das lässt sich ändern.
Zum Beispiel indem darauf beharrt wird, Frauke Brosius-Gersdorf sei eine Linksradikale, die Ungeborenen die Menschenwürde abspreche. Zur Sicherheit legte die AfD-Politikerin Beatrix von Storch vor einigen Tagen noch nach und erklärte auch die zweite von der SPD nominierte Kandidatin fürs Bundesverfassungsgericht zur Gefahr für die Bundesrepublik. „Wird Deutschland bald wieder eine DDR?“, fragt sie in einem Video. „Klingt verrückt, oder? Aber nicht, wenn Ann-Katrin Kaufhold Richterin am Bundesverfassungsgericht wird.“ Kaufhold wolle, dass der Staat ganze Branchen enteigne. Natürlich sage die das nicht genau so, aber doch so ähnlich. Raunen ist die Amtssprache im Deutschland der AfD.
Klare Worte allein helfen nicht dagegen. Die hat Merz im Fall Brosius-Gersdorf längst gefunden. Er hat kein Interesse daran, den Paragraphen 218 zu streichen, schon aus strategischen Überlegungen heraus. Das Thema sei „wie kein zweites geeignet, einen völlig unnötigen Großkonflikt in Deutschland auszulösen“, warnte er im Herbst; im Februar bekräftige er, das sehe er immer noch so. Dass er Brosius-Gersdorf in Anbetracht dessen für wählbar hält, könnte Menschen, die sich weniger intensiv mit politischen Risiken befassen als der Bundeskanzler, schon einen Hinweis darauf geben, dass dem Gericht in absehbarer Zeit keine Umwandlung zur Abtreibungs-NGO droht.
Wann tut Spahn etwas dagegen, dass die AfD auf ihn setzt?
Aber was der oberste Christdemokrat denkt, muss nicht allen anderen in seiner Fraktion einleuchten. Für Austausch und Ausgleich hätte deren Chef Jens Spahn sorgen sollen. Der war anderweitig beschäftigt, was ihn nun zerknirscht. Doch was folgt daraus? Lässt er ein Strategiepapier erarbeiten zur Stärkung der Unionsfraktion gegen die Attacken der AfD oder, noch besser, eines zur Verbesserung des Teamworks der Koalition? Wenn ja, müsste es sich messen lassen mit dem Strategiepapier der AfD-Fraktion zum Weg in die Regierungsverantwortung. Es wurde zusätzlich zur schon zitierten Präsentation erstellt. Darin wird ab Seite 3 erläutert, wie lagerübergreifende Koalitionen gespalten werden können. Das Ziel: links gegen rechts, der Tod für Schwarz-Rot.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Spahn müsste wissen, dass AfD-Politiker auf ihn zählen. Einflussreiche Leute wie der Erste Parlamentarische Geschäftsführer verzichteten in der Maskenaffäre ausdrücklich darauf, Spahns Rücktritt zu fordern; nicht aus Mitgefühl. Aus der AfD ist zu hören, dass man sich keine Hoffnungen auf eine Kooperation oder gar Koalition mit der CDU unter Führung von Merz mache. Doch wer könnte Parteichef, Kanzlerkandidat werden, wenn dieser scheiterte? Eben.
Spahn wird das nicht gern hören. Wann tut er etwas dagegen? Seine Macht ist immens; ob diese Regierung erfolgreich ist, wird stärker vom Miteinander der Fraktionen abhängen als von dem der Minister. Ja, er kann Streit nicht allein schlichten; aber er muss darin Vorbild sein. Ja, die Regierung ist noch nicht einmal hundert Tage im Amt; aber wenn etwas wichtig ist, zählt jede Minute. Die Arbeitsgruppe Strategie der AfD-Fraktion plant Treffen für September, Oktober und November. Dabei ist egal, dass das Ziel – „Alice ins Kanzleramt“ – in weiter Ferne zu liegen scheint. Ferne Ziele zu erreichen, ist gerade der Sinn von Strategien. Und wer weiß, ob sie nicht schnell näherrücken. Je unsicherer die Koalition, desto leichter ist sie weiter zu verunsichern.
Die Union muss dem etwas entgegensetzen. Die Mittel hat sie; ob sie die geeigneten einsetzt, ergibt sich aus der Qualität ihrer Strategie. Wie kann sie den Jäger abschütteln? Ein Nachteil ist, dass sie nicht allein regiert, so erscheint die AfD schneller, wendiger. Ein Vorteil ist, dass sie überhaupt regiert. Sie kann vormachen, wie man ein Land zusammenhält; aber nur, wenn sie damit schleunigst bei sich selbst anfängt.