Nicht erst, seitdem man in Venedig, Barcelona oder Hallstatt den „Overtourism“ beklagt, stehen Reisende vor der Herausforderung, dass die eigenen Ziele auch bei anderen hoch im Kurs stehen. In Reaktion darauf suchen sie nach Alternativen – weniger bekannten Orten, übersehenen Regionen und Schleichwegen. Wer heute nach neuen Reisezielen fahndet, konsultiert allerdings nur noch selten Reisehandbücher, sondern befragt Suchmaschinen und ChatGPT.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Blitzschnell lässt sich eine Reiseroute entwerfen, die eigene Interessen und Zeitvorgaben berücksichtigt. Doch die Künstliche Intelligenz kennt und behandelt die Welt als Text – und nimmt sich die Freiheit, diesen Text an unsere Vorstellungen anzupassen. Nicht nur Reisende bleiben deshalb skeptisch gegenüber generativer KI. Wenn man in Rechnung stellt, dass die Vorschläge der KI stets noch einmal geprüft werden sollten, gibt es schließlich kaum einen Effizienzgewinn.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie weist jedoch darauf hin, dass die Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz neuer Technologie sich recht schnell verflüchtigen könnte. Die Akzeptanz von KI dürfte – ähnlich wie bei anderen Technologien – in dem Maße wachsen, in dem man täglich mit ihr umgeht. Wie eine von den Autoren durchgeführte Befragung zeigt, sind erfahrene KI-Nutzer tatsächlich eher bereit, ChatGPT für die Reiseplanung einzusetzen als unerfahrene. Ihnen gilt die KI als weniger voreingenommen, persönlicher und nicht zuletzt als unabhängiger von wirtschaftlichen und anderen Interessen.
KI wird unterstellt, keine Eigeninteressen zu haben
Vielen ist klar, dass „Halluzinationen“, also fehlerhafte oder erfundene Informationen, ein Problem darstellen. Doch werden diese auch erkannt? Diese Frage sollte ein Experiment beantworten: In drei Szenarien wurden den Befragten jeweils zwei Reisepläne für Paris, London oder Bangkok zur Auswahl angeboten. Die erste Alternative wurde entweder der Plattform Tripadvisor, offiziellen Broschüren oder den Empfehlungen von Social-Media-Influencern entnommen.
Die zweite Option, die ChatGPT zugerechnet wurde, war bewusst so gestaltet, dass Fehler und Erfindungen erhalten blieben: Museen in falschen Ländern, nicht existierende Attraktionen, längst geschlossene Restaurants. Dennoch entschied sich ein Drittel bis die Hälfte der Befragten für die fehlerhafte oder irreführende Route der KI. Zur Begründung gaben sie an, diese wirke spannender, origineller, besser auf die eigenen Interessen abgestimmt – und vor allem: vertrauenswürdiger. Trotz fiktiver Sehenswürdigkeiten oder falscher Ortsangaben: Viele vertrauen der KI mehr als Tripadvisor, staatlichen Tourismusportalen oder Influencern.
Halluzinogene Software ist eben phantasivoller
Was wie postfaktischer Leichtsinn anmutet, hat System. Die Akzeptanz der KI-Routen folgt einer Mischung aus Erlebnishunger und Misstrauen gegenüber anderen Quellen. Paradoxerweise zeigten jene mit viel KI-Erfahrung eine größere Bereitschaft, fehlerhafte Vorschläge zu akzeptieren. Vertrautheit mit der Technik führt offenbar zu der technologisch induzierten Selbstüberschätzung, man könne tatsächliche und erträumte Reiseziele unterscheiden.
Der scheinbare Widerspruch zwischen häufig geäußerter Skepsis und tatsächlicher Leichtgläubigkeit lässt sich auflösen. Während einerseits pauschal bemängelt wird, KI-generierte Vorschläge seien zu generisch und oft unzutreffend, zeigt das Experiment, dass andererseits gerade die phantasievollen (aber mitunter erfundenen) Reisepläne als interessant und individuell wahrgenommen werden.
Akzeptanz wird nicht durch Wahrheit erzeugt, sondern durch Personalisierung und den Anschein von Unabhängigkeit. Dass eine Empfehlung falsch ist, verliert an Relevanz, solange sie interessant klingt und nicht einem Akteur mit Interessen zuzurechnen ist. ChatGPT wird nicht für das geschätzt, was es weiß, sondern wie es sich gibt: als ein aufmerksamer Berater.
Die gute Nachricht für überlaufene Reiseziele könnte sein: Wenn reale Orte durch halluzinierte Alternativen ersetzt würden, bliebe der Andrang aus. Venedig würde uninteressant, während sich die Reisewilligen aufmachten, um das Trinity College in London (statt in Dublin) zu besuchen oder den Nationalen Orchideengarten in Bangkok (statt in Singapur) – weil ChatGPT dies empfohlen hat. So weit dürfte es nicht kommen. Doch wenn die KI das Reisen zumindest um das eine oder andere Überraschungsmoment bereicherte, könnte dies zumindest helfen, diejenigen Routen und Ziele ein wenig zu entlasten, die unter der von Instagram & Co. befeuerten Dynamik besonders leiden.