Peter J. Marshall, Historiker des britischen Empire, verstorben

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Ohne Indien sei die Geschichte des britischen Empire nicht zu verstehen, davon war Peter James Marshall überzeugt. 1933 in Kolkata (Kalkutta) geboren, hat er sein langes wissenschaftliches Leben den Formen britischer Herrschaft über den Subkontinent vornehmlich im achtzehnten Jahrhundert gewidmet.

Aber nicht ausschließlich, denn er war auch ein intimer Kenner der Expansionsgeschichte in Nordamerika. Beide Großräume waren keinesfalls vollständig „durchdringbar“, beide konfrontierten die Kolonialmacht mit militärischen und nicht zuletzt administrativen Herausforderungen. Früh wies Marshall auf eine mögliche Übertragbarkeit von Kontrollmechanismen hin.

Behutsam lenkte Marshall das Interesse seiner Kollegen

Im Zuge einer „translatio imperii“ nicht im alteuropäisch-ideellen, sondern im modern-technischen Sinne habe das Besteuerungssystem der East India Company von der vorausgegangenen Herrschaft der Moguln profitiert und ebenfalls stark auf die Kooperation mit indigenen Eliten gesetzt. Indem er mit welthistorischer Phantasie die Fragilität kolonialer Herrschaft unterstrich, folgte Marshall den Beobachtungen Edmund Burkes, den die Nachwelt zwar als den frühesten Kritiker der Französischen Revolution, weit weniger jedoch als aufmerksamen Interpreten des britischen Empire in Irland, Indien und Amerika im späten achtzehnten Jahrhundert wahrnimmt. Viele Jahre rieb sich Burke in seiner Anklage von Warren Hastings auf, des Gouverneurs von Bengalen, den Korruption und Misswirtschaft in Verruf brachten. Drei Bände der großartigen Edition der Briefe Burkes hat Marshall herausgegeben. Zu den letzten Veröffentlichungen aus seiner Feder zählt das Buch „Edmund Burke and the British Empire in the West Indies“ von 2019.

Mit seinem ersten Buch „The Impeachment of Warren Hastings“ trat P. J. Marshall 1965 in die Fußstapfen von Thomas Babington Macaulay.
Mit seinem ersten Buch „The Impeachment of Warren Hastings“ trat P. J. Marshall 1965 in die Fußstapfen von Thomas Babington Macaulay.The British Academy

Noch vor seiner Promotion in Oxford 1962 hatte Peter Marshall Lehrverpflichtungen am King’s College in London übernommen. Als Rhodes Professor of Imperial History kehrte er 1980 ans King’s College zurück. Von 1975 bis 1981 gab er die führende Fachzeitschrift seines Feldes heraus, „The Journal of Imperial and Commonwealth History“. Als Präsident der Royal Historical Society (1996 bis 2000) lenkte er das Interesse der Kollegenschaft behutsam auf die nichteuropäische Geschichte. Oder genauer: Wie in seinem Werk insgesamt unterstrich er die europäisch-transnationalen und -transkontinentalen Verflechtungen. In den „Transactions“ der Gesellschaft, an einer der feinsten Adressen der britischen Geschichtswissen­schaften, erschienen seine vier präsidialen Vorlesungen unter dem Titel „Britain and the World in the Eighteenth Century“. Der Gesellschaft blieb er zeit seines Lebens durch die Einrichtung eines aus eigenen Mitteln getragenen Stipendienprogramms verbunden.

Legendäre Forschungsseminare und ein Standardwerk

Legendär wurden die von Marshall mit seinem Kollegen Andrew N. Porter geleiteten montäglichen Forschungsseminare im Londoner Institute of Historical Research zur Imperialgeschichte. Viele der Kapitel der „Oxford History of the British Empire“, deren fünf Bände 1998 und 1999 erschienen, wurden hier vorab der genauesten Prüfung unterzogen. Selbst die kleinsten Unschärfen, ob in begrifflicher, theoretischer, methodischer oder empirischer Hinsicht, fanden in der Diskussion kein Pardon. Ansonsten Inbegriff der Toleranz und Liberalität, kannten die Seminarleiter zur wissenschaftlichen Präzision keine Alternative. Marshall gab den Band zum achtzehnten, Porter den zum neunzehnten Jahrhundert heraus. Später mit wichtigen Ergänzungsbänden versehen, kann die „Oxford History of the British Empire“ als Standardwerk gelten (F.A.Z. vom 9. April 1999).

2002 erhielt Marshall den passend benannten Orden eines Commander of the British Empire. Ein englischer Gentleman, in seinen Umgangsformen, seinem Humor und in seiner Großzügigkeit unübertroffen, spiegelte er in seinem Werk, was Edmund Burke 1777 „the great map of mankind“ genannt hat – die Landkarte des Lebens, die sich vor den Augen ihrer Betrachter immer weiter entfaltet, bis sie sich dann doch schließen muss. Am 28. Juli ist Peter Marshall im Alter von 91 Jahren gestorben.