Eine grundlegende Kehrtwende soll Mercedes in den kommenden Jahren wieder steigende Verkaufszahlen bescheren: Der Stuttgarter Autohersteller präsentiert auf der Automesse IAA im September eine umfassende neue Designstrategie, die den Prestigeanspruch der Luxusmarke und zugleich des Erfinders des Automobils unterstreichen soll. Beginnend mit dem elektrisch angetriebenen Mittelklasse-SUV, das wohl unter dem Namen GLC auf der Automesse IAA vorgestellt wird, soll die Mercedes-Front künftig wieder von einem dreidimensionalen verchromten Kühler geprägt werden.
Der neue Grill weckt Reminiszenzen an die traditionelle verchromte Front, die Mercedes-Limousinen bis in die Achtziger Jahre prägten. Damals hatte der Grill eine Funktion, er diente als Abdeckung für den Wasserkühler des Motors. Doch so etwas brauchen die neu vorgestellten Elektroautos nicht mehr. Der neue Grill soll vielmehr den Fahrzeugen von Mercedes wieder ein Gesicht geben. Er ist nicht mehr luftdurchlässig, sondern besteht aus einem aufwendigen Chromrahmen, einer Gitterstruktur, dahinter Rauchglas sowie einer Beleuchtung der gesamten Kontur. Der Mercedes-Stern prangt beim elektrischen Mittelklasse-SUV in der Mitte des Kühlers, bei künftigen Modellen aber auch wieder oberhalb des Grills. Der historische, technisch funktionslose Grill des GLC kann mit 942 einzelnen Lichtpunkten veredelt werden. Die sollen künftig auch Pixelgrafiken ermöglichen. Mercedes sieht eine Möglichkeit, die Front „zum Leben zu erwecken“.
Zurück zum traditionellen Mercedes-Look
Jede neue Marke aus China suche derzeit nach Möglichkeiten, eine Identität zu präsentieren, sagte der Vorstandsvorsitzende von Mercedes-Benz, Ola Källenius, bei der Vorstellung des Konzepts. „Da macht es Sinn, dass eine Marke, die eine solche Identität hat, diese auch präsentiert.“ Der Grill knüpfe am Stammbaum des Mercedes-Design seit den Zeiten von Wilhelm Maybach an und gebe dem Auto auch dementsprechend Präsenz: „Das ist ein ganz klarer Mercedes-Look, der nicht mit irgendetwas anderem verwechselt werden kann.“
Das Bestreben von Ola Källenius, den Autos von Mercedes wieder ein markantes, unverwechselbares Erscheinungsbild zu geben, hat seine Wurzeln auch in der Kindheit des Managers. Immer wieder erzählt er davon, wie er in den Straßen von Danderyd, einer Gemeinde nordwestlich von Stockholm, gespielt hat – und immer genau wusste, welcher Nachbar einen Mercedes besaß und vor welchen Grundstücken regelmäßig ein Auto mit dem Stern auf der Haube parkte. „Auch wenn ich nur vorbeigeflitzt bin und die Fahrzeuge nur aus den Augenwinkeln gesehen habe, mir war immer klar, welches Auto ein Mercedes ist und welches nicht“, sagt der Mercedes-Chef. „Die Front mit dem Wabengrill habe ich schon damals immer wiedererkannt.“

Der Grill wird damit zum entscheidenden Charakterzug des Autos. Dabei steckten die Anfänge in einer prosaischen technischen Entwicklung: Ursprünglich waren im Daimler von 1901 der vorn getragene Grill und der Kühler ein und dasselbe. Das Wabendesign, das danach für 90 Jahre beibehalten wurde, sollte anfangs einfach eine möglichst gute Kühlung und zudem mechanische Stabilität des Kühlers garantieren. Dieses Modell prägte dann die Modellgeschichte auch deswegen, weil es als erstes ein „Mercedes“ war. Später wurde der Kühler zu einem weniger ansehnlichen Teil aus vielen grauen Lamellen, dem dann bei den Modellen des vereinten Unternehmens Daimler-Benz ein möglichst repräsentativer verchromter Grill vorangesetzt wurde.
Ein opulentes Glanzstück als Teil des „Autogesichts“ war seit den Fünfzigerjahren bei vielen Automarken üblich, angefangen bei Rolls Royce, wo der Grill an einen griechischen Tempel erinnern soll, bis hin zu den amerikanischen Marken, wo schwülstiger Chrom vorn einfach Luxus symbolisieren sollte. Die Grills von Mercedes waren anfangs noch schmal und hoch, später dann immer breiter.
Der „demokratisierte“ Grill der Neunziger Jahre
Als 1991 mit einer neuen S-Klasse mit dem Baureihenkürzel W140 ein besonders ausladend gezeichnetes Modell vorgestellt wurde, drehte sich die Stimmung: Der große Mercedes wurde wegen seiner Abmessungen und Formen als übertrieben ausladender Blob kritisiert, mit dem Mercedes die Opulenz zu weit getrieben habe. Der damalige Mercedes-Chefdesigner Bruno Sacco reagierte auf diese Stimmung mit einer Serie von filigranen und schlank erscheinenden Folgeserien der Mercedes S-Klasse. Vor allem legte er sofort Hand an den opulenten Grill: Anstelle des dreidimensionalen Chromteils gab es in der Folge für alle Mercedes nur noch einen einfachen zweidimensionalen Grill, eingelassen in die lackierte Motorhaube. Das Mercedes-Gesicht sei damit „demokratisiert“ worden, sagte Bruno Sacco damals der F.A.Z. Dieser Schritt passte auch in eine Zeit, als sich Mercedes anschickte, mit kleinen und kompakten Autos der A- und B-Klasse neue Kunden nicht mehr in der oberen Mittelklasse und Oberklasse der Autofahrer zu suchen, sondern in allen Schichten der Gesellschaft.

Noch weiter in den Hintergrund trat der Grill schließlich, als Mercedes 2021 mit der Vorstellung des elektrisch angetriebenen Luxusklassemodells EQS nur noch eine flache Kunststoffplakette anstelle des Grills präsentierte. Das geschlossene Designelement sollte kommunizieren, dass das Auto dahinter gar keinen Grill mehr brauchte, weil elektrisch angetrieben. Zwar brauchen auch Elektromotoren oder Batterien Kühlung, aber es gibt dazu eben keinen Wasserkreislauf, der vorn einen Lamellenkühler hinter einem Grill benötigt.
Die neuen Elektroautos aus China verzichten daher allgemein auf jegliche Reminiszenz an den früher notwendigen Grill. Befördert wird der neue Stil durch den Umstand, dass in Elektroautos im Vorderwagen nicht mehr ein Motorblock mit umfangreichen Nebenaggregaten untergebracht werden muss. Im Verbrennerauto sorgen der Motorblock und Sicherheitsvorschriften zum Schutz vor Fußgängern – die einen Mindestabstand zwischen Motorhaube und dem harten Motor verlangen – von vornherein für großen und hochbauenden Platzbedarf im Vorderwagen, der dann auch mit einem Grill kaschiert werden musste. Dagegen kann beim Elektroauto die Motorhaube viel flacher verlaufen. Die Möglichkeit einer flachen vorderen Haube und eines kurzen Vorderwagens nutzten auch der Mercedes EQS und sein kleinerer Bruder EQE.
Flop mir dem Gesicht für die Elektroautos
Allerdings kam dieses prononcierte Elektroautodesign bei den Mercedes-Kunden nicht besonders gut an. Wenige legten Wert darauf, mit dieser Form öffentlich zu bekunden, dass sie fortschrittlich und schon auf einen Elektroantrieb umgestiegen seien. Zu viele fanden offenbar das Design zu wenig Mercedes-haft, zu anonym und mit zu viel Ähnlichkeit zu den vielen asiatischen Elektroautos mit flacher Schnauze, aber mit wenig charakteristischem Gesicht.

Mercedes will nun mit der neuen kühlerartigen Front im Technodesign wieder Flagge zeigen und wieder an den prestigeträchtigen Formen früherer Zeiten anknüpfen. Daher soll das neue Mercedes-Gesicht auch möglichst schnell eingeführt werden, bei Auffrischungen oder Präsentationen neuer Modelle. Schon bald sollen daher die wichtigen Volumenmodelle der C-Klasse und E-Klasse mit dem neuen Mercedes-Gesicht auf den Markt kommen. Nicht zuletzt auf dem chinesischen Markt, wo Mercedes zuletzt schwach war, soll das neue „Gesicht“ mit Reminiszenz an traditionelles Prestige und dennoch viel „Techno“ den Modellen des Stuttgarter Konzerns einen zeitgemäßen und dennoch luxuriösen Status geben. Vor allem sollen die Mercedes-Fahrzeuge damit wieder mehr aus der Menge hervorstechen.
Ola Källenius schlägt damit einen Bogen von den Erfahrungen seiner Kindheit in Schweden zum Mercedes-Design der Zukunft: Wie er als Kind auch aus dem Augenwinkel sofort die Autos aus Stuttgart erkannte, so soll es jeder Autofahrer erleben, wenn im Rückspiegel ein Fahrzeug der Marke Mercedes auftaucht, sagt Källenius: „Man muss sofort wissen, dass das ein Auto von uns ist – und der Wabengrill stellt das sicher. Es ist ein Element, das so nur wir haben.“