Sie lasen sich schön, die Erfolgsmeldungen im ersten Halbjahr: Der Dax und auch die anderen europäischen Märkte haben die Amerikaner abgehängt. Selbst die großen US-Tech-Werte sahen ziemlich alt aus; vor allem wenn noch der starke Euro und der schwache Dollar berücksichtigt werden. Die Sache hat freilich einen Haken. Nicht nur, dass viele Fachleute von Beginn an betont haben, es handele sich um eine phasenweise Amerika-Schwäche, nicht um eine Europa-Stärke an den Märkten. Dazu kommt noch, dass es nur relative Erfolge Europas sind. Die werden doch arg geschmälert beim Blick auf die absoluten Zahlen. Ja, der Dax ist im Börsenwert um 20 Prozent gestiegen, aber in Summe kommen alle deutschen börsennotierten Unternehmen auf einen Wert von drei Billionen Euro. Die US-Märkte stagnierten auf Eurobasis hingegen, aber liegen aktuell auf einem Wert von 66 Billionen Euro.
Im Sport würde es mitleidigen Applaus geben, wenn der Außenseiter mal einen Treffer zum 1 zu 22 erzielt. Der Sieg bleibt weit entfernt. Die europäische „Aufholjagd“ ist denn im Sommer auch schon wieder zum Erliegen gekommen. Nvidia, die Europäer müssen es anerkennen, hat allein einen Börsenwert von vier Billionen Dollar überschritten. Das ist mehr als alle deutschen Unternehmen an der Börse zusammen und fast so viel wie die 50 größten Europäer im Euro Stoxx 50 in Summe.
Eine Grund ist die amerikanische Kapitalmarktaffinität. Alle großen Konzerne sind börsennotiert und fließen in die Statistik, während in Deutschland die Aldis, Lidls, Boschs und Bertelsmanns der Börse ebenso fern sind wie die vielen „Hidden Champions“, die Weltmarktführer vom Sauerland bis zum Schwarzwald. Sie heißen aber auch deshalb Hidden (versteckte) Champions, weil sie eben kaum einer kennt. Nvidia hingegen braucht fast jeder Computer, Microsoft auch oder Apple. Welches Smartphone nutzt nicht Alphabets Google oder Metas Whatsapp? Wer bestellt nicht bei Amazon?
Geld für Investitionen und Wachstum fließt woanders hin
Wir freuen uns über den größten deutschen Kursgewinner Rheinmetall. Allein Palantir ist in den USA das Vierfache wert. Die Börsen freuen sich auch über das Unicredit-Interesse an der Commerzbank. Aber was sind die 36 Milliarden Euro Börsenwert gegen J.P. Morgans 700 Milliarden Euro? In fast jedem unserer Portemonnaies steckt Visa (600 Milliarden Euro Börsenwert) oder Mastercard (440 Milliarden Euro). Einer der wichtigsten Industriezweige unseres Landes wird an der Börse von Tesla und BYD dominiert. Die demographischen Chancen spielen sich vor allem in Biotech- und Pharma-Aktien in New York ab.
Nun hat die Börse nicht immer recht. Die Kurse bilden Zukunftserwartungen ab. Sie zeigen aber auch, welchen Geschäftsmodellen die Anleger bereit sind, Geld für Investitionen und das Wachstum von morgen bereitzustellen. Bevor die deutsche und europäische Politik die Bewertungsdiskrepanz von 22 zu 1 zugunsten Amerikas als pure Spekulation abtut, sollte sie aufpassen, dass dem Kapital nicht weitere Arbeitsplätze und damit Steuereinnahmen und Sozialabgaben folgen.
Noch immer hakt die Bildung eines europäischen Bankenchampions im Sinne eines viele Ländergrenzen überschreitenden Instituts unter anderem an nervigen Steuerregeln, die von Land zu Land sehr unterschiedlich sind. Europaweite Börsengänge bleiben eine Illusion, wären aber dringend nötig als Gegengewicht zu den USA und China. Das Gerede von der Kapitalmarktunion ist so alt wie die Europäische Union selbst, und Fortschritte sind selbst in der langsamsten Zeitlupe kaum erkennbar.
Wer immer an der Börse verpassten Chancen nachtrauert, dem ist zuzurufen, dass es immerhin jeden Tag neue Chancen gibt. Die Deka hat kürzlich berechnet, dass, wenn nur ein Prozent des amerikanischen Börsenwerts nach Deutschland flösse, hier sogleich 25 Prozent höhere Bewertungen ausgelöst würden. Den Zwergenstatus Europas kann man bejammern, er ist aber auch eine Chance – angefangen von einer kapitalmarktfreundlicheren Altersvorsorge, die das Umlagesystem deutlich entlasten, Unternehmen mehr Investitionsmittel beschaffen und den Sparern bessere Renditen bescheren könnte, über radikal einfachere Regeln für europäische Börsengänge bis hin zu einem längst überfälligen grenzüberschreitenden Finanzmarkt.
Diese schlafenden Potentiale sind so groß, dass sie an den Weltbörsen nachhaltigere Wirkung zeigen könnten als das Strohfeuer, das von der neuen deutschen Regierung ausging, die mit viel mehr Schulden zu neuem Wirtschaftswachstum gelangen möchte.