75 Jahre „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“: Merz lobt „Mut zum Neubeginn“

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Das Neue Schloss in Stuttgart lag im August 1950 noch vollständig in Trümmern. Auch die Königstraße war eine Ruinenlandschaft. Die Menschen kauften in provisorischen Kellergeschäften ein. In Deutschland lebten zu diesem Zeitpunkt 8,1 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Ihr Schicksal galt als das größte soziale Problem der Nachkriegszeit. Zugleich lebten noch fast zehn Millionen Menschen in Deutschland, welche die Alliierten zusammenfassend „Displaced Persons“ nannten, also ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, polnische Landarbeiter, Überlebende des Holocausts.

Welche Dimension die Integration vertriebener Menschen in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte und wie stark sich die Bevölkerungsstruktur veränderte, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten: 1961 lebten allein in Baden-Württemberg 1,2 Millionen Heimatvertriebene und weitere 415.000 Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Die Neubürger machten 21 Prozent der Bevölkerung aus. Ohne diese von außerordentlichem Fleiß, Ehrgeiz und Aufstiegswillen geprägte Bevölkerungsgruppe wäre der Wirtschaftsaufschwung wesentlich schleppender verlaufen.

Die Stimmung war angespannt

Die Vertriebenen trafen bei ihrer Ankunft in den ersten Nachkriegsjahren auf eine Gesellschaft, die selbst in Bewegung war. Soldaten kehrten aus dem Krieg und der Gefangenschaft heim, vor alliierten Bombern in Sicherheit gebrachte Familien kehrten in die Großstädte zurück und Ausgebombte suchten neue Wohnungen, beschreibt der Historiker Ulrich Herbert. 1960 zählte ein Viertel der deutschen Bevölkerung zu den Vertriebenen und Flüchtlingen.

Im Februar 1950 kündigte der erst 1949 gegründete Zentralverband vertriebener Deutscher (ZvD) – er vertrat etwa vier Millionen Menschen – an, eine „Magna Charta der Vertriebenen“ zu formulieren. Als man sich am 5. August in Stuttgart traf, war die Stimmung angespannt, denn Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte den Verbandsvorsitzenden Linus Kather nicht zum Vertriebenenminister gemacht. Kather galt als schwieriger Charakter. Zwischen den Vertriebenenorganisationen ZvD und „Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften“, die später beide im heutigen Bund der Vertriebenen (BdV) aufgingen, gab es Spannungen. Auch das Lastenausgleichsgesetz gab es noch nicht. Die Stimmung der Vertriebenen war geprägt von Wohnungsnot, düsteren Zukunftsaussichten und den häufig eher feindseligen Empfang durch die einheimische Bevölkerung, besonders dort, wo es zu konfessionellen Konflikten kam. Gleichzeitig handelte es sich um eine wichtige Wählergruppe.

Plädoyer für Heimat: Merz auf dem Tag der Heimat im Stuttgarter Schloss.
Plädoyer für Heimat: Merz auf dem Tag der Heimat im Stuttgarter Schloss.EPA

Der ZvD wählte Stuttgart bewusst als Unterzeichnungsort aus, weil der Landesverband gut organisiert war und die Nazis Stuttgart einst zur „Stadt der Auslandsdeutschen“ gemacht hatten: 1936 hatte Adolf Hitler der württembergischen Stadt, die er ansonsten nicht mochte, diesen Titel verliehen. Den Kommunalpolitikern gefiel dieser historische Bezug nicht, sie konnten aber nichts dagegen tun. Auf dem Schlossplatz hingen am 5. und 6. August 1950 Plakate mit der Aufschrift: „Gebt uns unsere Heimat wieder“ und „Weg mit Jalta und Potsdam“. Kurz nach dem fünften Jahrestag der Konferenz von Potsdam wollten die Vertriebenen die Chance nutzen, das – wie sie es formulierten – „Weltgewissen wach zu rufen“.

Keine Worte zum Zweiten Weltkrieg

Ein Satz des ZvD-Vorsitzenden Kather zeigte, wie schmerzhaft die Wunden waren und was mit Blick auf den gesellschaftlichen Frieden auf dem Spiel stand: „Wir bilden heute noch keineswegs radikale Parteien. Wenn aber unsere Stimmen immer weiter überhört werden, dann werden die Vertriebenen denen ihr Wort geben, auf die sie sich hundertprozentig verlassen können, ohne Rücksicht darauf, ob sie damit den Boden der Wirklichkeit verlassen oder nicht.“ Vor allem die CDU als junge Volkspartei musste bezüglich dieser neuen Bevölkerungsgruppe eine schwierige Integrationsaufgabe erfüllen. Auf den Kundgebungen in Stuttgart zur Unterzeichnung der Charta wurden die Reden von Vizekanzler Franz Blücher (FDP) und Vertriebenenminister Hans Lukaschek (CDU) durch Buhrufe mehrfach unterbrochen. Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) forderte man zum Rücktritt auf, weil man ihn für die finanzielle Benachteiligung verantwortlich machte.

Inhaltlich zeichnete sich die Charta dadurch aus, dass sie keine Forderungen nach einer Revision der Grenzen enthielt, aber ein klares Bekenntnis zu einem geeinten Europa und die Selbstverpflichtung, sich am Wiederaufbau Deutschlands und Europas zu beteiligen. „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“, heißt es in der Charta, dieser Entschluss sei den Unterzeichnern „ernst und heilig“. Und weiter: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“

Was fehlte, war ein Bekenntnis zur Mitschuld am Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus. Die Selbstbeschreibung der Heimatvertriebenen zeugt von einer starken Traumatisierung, denn sie sahen sich als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“. Dementsprechend kontrovers wurde die Charta in der Rückschau diskutiert: Linke kritisierten sie als ein Dokument „selbstgefälligen, kontextlosen Opfergedenkens“; Konservative lobten den Willen zu einem geeinten Europa und zum Frieden. So sagte der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble anlässlich des 65. Jubiläums der Charta: „Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum, christliche Humanität.“

In der damaligen Zeit verstehen

Die Charta verlangte mit einer naturrechtlichen Herleitung auch ein „Recht auf Heimat“. Gott habe die Menschen in ihre Heimat hineingestellt, denn „Heimatlose seien Fremdlinge“ auf dieser Erde. Während das 1949 verabschiedete Grundgesetz ein solches Heimatrecht nicht kennt, ist es in Artikel 2 der baden-württembergischen Landesverfassung von 1953 verankert, dort heißt es: „Das Volk von Baden-Württemberg bekennt sich darüber hinaus zu dem unveräußerlichen Menschenrecht auf die Heimat.“

Der Tübinger Historiker Mathias Beer hat die Entstehungsgeschichte der Charta erforscht. Er sagt: „Man muss die Charta aus der damaligen Zeit verstehen. Zwei Dinge standen im Mittelpunkt der Charta: das Recht auf Heimat und die Forderung, die Vertriebenen in die bundesrepublikanische Gesellschaft als gleichberechtigte Bürger einzugliedern. Die explizite Forderung nach einer Revision der Grenzen enthielt die Charta nicht. Deshalb lässt sie sich als Dokument der europäischen Einigung und auch der Aussöhnung lesen“. Dass in der Charta nicht auf die Verbrechen der Nationalsozialisten Bezug genommen worden sei, sei für die damalige Zeit typisch gewesen. „Man sprach nur vieldeutig über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Das, was wir heute Geschichtsaufarbeitung nennen, gab es noch nicht.“ Die Tabuisierung dieses Themas in der Charta spiegelte die Stimmung in der Gesamtgesellschaft wider.

Die vom ZvD inszenierten Feierlichkeiten erstreckten sich über zwei Tage. Am 5. August 1950 wurde die Charta im Kursaal in Bad Cannstatt verabschiedet, am 6. August vor den Ruinen des Neuen Schlosses verkündet. Die feierliche Unterzeichnung fand im Kuppelsaal der Villa Reitzenstein statt. Zunächst unterzeichneten das Dokument aber nur elf Vertriebenenvertreter, was offenbar auch an internen Meinungsverschiedenheiten lag. Zum Abschluss fand am 6. August auf dem Gartenschaugelände ein Volksfest statt.

Merz lobt „Mut zum Neubeginn“

75 Jahre nach der Unterzeichnung unterbrach Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) seinen Sommerurlaub, weil er ein noch als Oppositionsführer abgegebenes Versprechen an den BdV einlöst, im Festsaal des Neuen Schlosses eine Rede zu halten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der selbst aus einer Familie aus dem ostpreußischen Ermland stammt, ist wie Innenminister Thomas Strobl (CDU) urlaubsbedingt abwesend. Dafür sind der grüne Spitzenkandidat für die Kretschmann-Nachfolge, Cem Özdemir, und Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) da.

Merz verknüpfte in seiner Rede am Dienstag die Begriffe Heimat und Freiheit: Er erinnerte daran, dass in der britischen Besatzungszone für einen Vertriebenen aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa nur vier Quadratmeter pro Person zur Verfügung standen. Merz zitierte Hannah Arendt: Vertriebene und Flüchtlinge hätten „das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein“. Eine zentrale Schlussfolgerung von Merz lautete: „Wenn wir Menschen unsere Freiheit leben und gestalten wollen, dann brauchen wir eine Heimat: einen Ort, an dem wir Anerkennung finden können mit unserem Tun und Handeln.“

Merz lobte den „Mut zum Neubeginn“ und die „Vorbildkraft“, die in der Aufbauleistung von Vertriebenen und Spätaussiedlern gesteckt habe, zog jedoch keine Parallelen zur Flüchtlingskrise des Jahres 2015 und den aktuellen Debatten zur Migration. Der Satz der Charta, auf „Rache und Vergeltung“ zu verzichten, sei ein kontroverser Satz, weil die Deutschen Europa ja mit Krieg und Gewalt überzogen hätten. Aber daran könne man sehen, dass „die Wirklichkeit eines Krieges“ überall Opfer schaffe. Heute, sagte Merz mit Blick auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, müssten die Vertriebenen wieder „Übersetzer und Mittler zwischen den Gesellschaften Europas und seiner Nachbarn“ sein, ein „Schlüsselstück“ zur Friedenssicherung blieben „Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften“. Das gelte besonders dann, wenn „autoritäre Staaten Feindschaft zwischen den Völkern neu verordnen wollten“.

Der Bundeskanzler versprach, „Möglichkeiten des Zuzugs“ auch für Deutschstämmige zu ermöglichen, die nach dem 31. Dezember 1992 geboren wurden. Die per Organisationserlass durch die jetzige Bundesregierung vollzogene Herauslösung der Zuständigkeit für Heimatvertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler aus dem Bundeskanzleramt ins Innenministerium hob Merz lobend hervor. Aussiedler und Spätaussiedler sind heute wichtige Wählergruppen für die CDU und CSU, vor allem unter den Russlanddeutschen sind auch die Stimmenanteile für die AfD sehr hoch.

Was ein Historiker bemängelt

Die Darstellung der Geschichte von Flucht und Vertreibung ist seit Jahrzehnten ein Streitthema. Bis 1990, sagte der Historiker Beer, habe es viele Kontroversen gegeben. „Erst durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag hatten sich Forderungen nach einer Revision der Grenzen erledigt. Aber als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 aus Anlass des 40. Jahrestags der Verkündung der Charta in Stuttgart vor Vertriebenenvertretern die Anerkennung der neuen Grenzen verteidigte, wurde er ausgebuht.“

Der Historiker Beer, der am Festakt einen wissenschaftlichen Impuls gab, hält wenig davon, das Vertriebenenthema wieder ins Innenministerium zu verlagern. „Als Historiker würde ich immer dafür plädieren, die Erinnerung an deutsche Verbrechen, die NS-Diktatur nicht vom Thema Flucht und Vertreibung zu trennen. Insofern ist das, was jetzt entschieden wurde, erinnerungspolitisch eher ein Rückschritt.“

Nach 1990 sei man, so Beer, bemüht gewesen, die Erinnerung an Flucht und die deutschen Vertriebenen „in einen europäischen und weltweiten Kontext“ zu stellen. Es ging um die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarn und die Würdigung der wichtigen Rolle, die Flüchtlinge und Vertriebene beim Aufbau der Bundesrepublik hatten. Deshalb habe man 2014 entschieden, den 20. Juni und eben nicht den 5. August zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung zu machen. „Und in den achtziger Jahren waren es Helmut Kohl und der damalige Leiter des Deutschen Historischen Museums, Christoph Stölzl, die dafür warben, die Geschichte der Vertriebenen zum Teil der deutschen Erinnerungskultur zu machen.“