Wie gefährlich ist Palantir wirklich? – Was Sie über die umstrittenste Software der Welt wissen müssen

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In den USA schießt der Börsenkurs von Palantir in die Höhe, in Deutschland wollen Datenschützer die Software des Unternehmens am liebsten vom Markt verbannen. Was steckt dahinter?

Einerseits heizt Palantir Technologies mit seinen Programmen, Diensten und Geschäftszahlen die Phantasie der Anleger an. Andererseits weckt das Unternehmen alte Befürchtungen eines neuen Überwachungsstaats.

An der Börse geht es um kommende Entwicklungen, und hier wird Palantirs Software noch sehr viel zugetraut. In der politischen Arena aber wird genau diese Software scharf kritisiert. Lassen sich mit ihr doch Dinge machen, die bislang nicht möglich waren. Es geht um die quasi punktgenaue Analyse großer Datenmengen. Diese Daten können aus verschiedenen Quellen oder Plattformen stammen, unterschiedliche Formate haben, strukturiert oder auch unstrukturiert, also vorsortiert oder völlig durcheinander sein.

Erst einmal nichts. Können die Palantir-Programme doch Ordnung in jede Art von digitalem Datensalat bringen und verdeckte Profile oder gar Muster sichtbar machen. Damit lassen sich dann recht gute Prognosen erstellen.

Kritiker erklären, dass Sicherheitsbehörden mithilfe der Programme die Daten von Millionen unbescholtener Bürger automatisch und verdeckt analysieren könnten. Das hebele Grundrechte aus und verstoße gegen Gesetze.

Was ist an den Vorwürfen dran?

Darüber wird gestritten. In diesem Streit wird stets auf drei Punkte verwiesen. Erstens: Der Gründer von Palantir, Peter Thiel, zähle zum politisch rechten Spektrum Amerikas, sei der erste Geldgeber Donald Trumps aus dem Silicon Valley gewesen und habe die politische Karriere des Vizepräsidenten James D. Vance finanziert. Zweitens: dass der Palantir-Chef Alexander Karp eine recht extrovertierte Figur sei. Und drittens, dass der erste Kunde von Palantir die CIA war.

Palantir sagt Nein. Es sieht sich nicht als Daten- oder KI-Firma. Auch handele es nicht mit Daten, verkaufe oder kaufe sie nicht. Kritiker wie der deutsche Chaos Computer Club oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte aber sagen Ja.

Setzt die deutsche Polizei auf Palantir?

Ja, unter jeweils verschiedenen Namen wie zum Beispiel „Vera“. In Hessen seit 2017; in NRW seit 2020; in Bayern seit 2024. Bald soll auch die Polizei in Baden-Württemberg palantieren. Darüber hinaus prüft auch das Bundesinnenministerium den Einsatz.

Viele Polizisten und sogar deren Gewerkschafter sagen, der Einsatz von Palantir sei ein Muss. Ließen sich damit doch wichtige Daten schnell und präzise auswerten, Verbrechen aufklären und Terroranschläge verhindern.

Fließen von den Polizeicomputern dafür Daten ab?

Theoretisch nicht. Denn die von der deutschen Polizei bislang genutzten Palantir-Programme werden nicht aus der Cloud abgerufen. Vielmehr sind sie auf die Polizeicomputer aufgespielt. Auch hat die Polizei eigene Rechenzentren, Server und Spezialisten. Ihre Computer mit sensiblen Daten hängen in der Regel nicht an den offen zugänglichen Datennetzen.

Also geschlossene Systeme?

Nicht ganz. Denn gewisse Zugänge zur Außenwelt gibt es immer. So haben Palantir-Mitarbeiter für Implementierungs-, Wartungs- und Anpassungsarbeiten zumindest teilweise Zugang zu den Datensystemen der Polizei. Kritiker prangern das an. Sie befürchten Datenabgriffe.

Das Bundesverfassungsgericht hatte 2023 in einem Grundsatzurteil der automatisierten Datenanalyse durch die Polizei enge Grenzen gezogen, Standards gesetzt für das Data-Mining und fragliche Datenauswertungen der Polizei in Hessen und Hamburg eingeschränkt beziehungsweise aufgehalten. Allerdings wird Bayern vorgeworfen, die gesetzten Standards nicht einzuhalten. GFF und CCC reichten Verfassungsbeschwerde ein.

Warum greift man nicht auf eine Software aus Europa zurück, wenn man die Amerikaner draußen halten will?

Weil es eine solche Software aus Europa nicht gibt. Es wird sie auf Jahre hinaus auch nicht geben.

Weil sie sehr komplex und kompliziert ist. Sie wurde in einem halben Dutzend Programmiersprachen geschrieben und besteht aus hundert Millionen Zeilen an Code. Die schreibt man nicht mal so in ein paar Monaten runter.

Wie funktionieren die Programme?

Sie sind als mehrstufige Plattformen aufgebaut. Dabei werden verfügbare Daten integriert und vergleichbar gemacht, analysiert, gefiltert und gewichtet. Die Software verarbeitet die Daten, generiert aber keine neuen; sie interpretiert ihre Ergebnisse nicht, sondern überlässt das den jeweiligen Nutzern. Sie deckt so gut wie alle relevanten Funktionen ab, ist relativ einfach zu bedienen und geht mit Europas Datenschutzregeln konform. Auch ist sie an nationale Rechtssysteme anpassbar und kommt mit engmaschigen Netzen von Zugriffs- und Funktionsrechten daher, da ja nicht jeder zertifizierte Nutzer alle Daten einsehen darf.

Peter Thiel, Mitbegründer von Palantir Technologies, auf einer Konferenz in Miami
Peter Thiel, Mitbegründer von Palantir Technologies, auf einer Konferenz in MiamiAFP

Und das alles ist überprüft?

Zuletzt hatte Bayern die für seine Zwecke spezifierte Palantir-Software einer Prüfung unterziehen lassen. Dabei fand das untersuchende Fraunhofer-Institut weder virtuelle Hintertüren für mögliche Spionage noch Funktionen, die zu möglichen Datenabflüssen führen könnten.

In Europa arbeitet man dennoch an eigenen Programmen?

Ja. Aber das wird viel Zeit, Geld und Ressourcen kosten. Palantir hat seine Systeme über zwei Jahrzehnte entwickelt und dabei Verluste von sechs Milliarden Dollar verbucht. Für diesen Weitblick steht auch der Name „Palantir“, bedeutet er doch „weit sehende Steine“. Er kommt aus der Romanreihe „Herr der Ringe“ von J. R. R. Tolkien. Die Steine konnten über weite Distanzen kommunizieren. Das gab ihren Besitzern viel Macht – im Guten wie im Bösen.

Wie laufen Palantirs Geschäfte?

Das Unternehmen befindet sich auf steilem Wachstumskurs. In den vergangenen vier Jahren hat sich der Umsatz verdoppelt. Palantir will dieses Jahr 4,1 Milliarden erlösen und 1,9 Milliarden Dollar verdienen.

Wie hoch ist der Anteil der jährlichen Geschäfte mit der öffentlichen Hand?

Er macht etwas mehr als die Hälfte der Gesamterlöse aus. Derzeit prüft die US Army, mit Palantir einen Zehnjahresvertrag über zehn Milliarden Dollar abzuschließen.

Wie hoch ist der Börsenwert?

Nach dem steilen Kursanstieg kommt Palantir auf einen Marktwert von 380 Milliarden Dollar. Das ist etwas mehr, als die deutsche SAP SE derzeit auf die Börsenwaage bringt. Allerdings erlöst Europas größtes Softwarehaus fast zehnmal mehr als Palantir. Auch der Gewinn der deutschen Softwareschmiede ist deutlich höher als der der Amerikaner.

Ist die Palantir-Aktie hoch bewertet?

Ja. Während SAP einen Aktienkurs vom 47-Fachen seines Gewinns hat, kommt Palantir auf einen Wert von 530. Das durchschnittliche KGV der Unternehmen im Börsenindex S&P 500 beträgt 29.

Gab es schon einmal solch hochgesteckte Erwartungen?

Ja, bei der Amazon-Aktie. Die hatte 2015 die Phantasien der Anleger so aufblühen lassen, dass sie das Papier des Onlinehändlers vorübergehend mit einem Kurs handelten, der dem Tausendfachen des Gewinns entsprach.

Bei Amazon dauerte es sieben Jahre bis zum ersten Gewinn, Palantir brauchte zwanzig Jahre.

Ja, aber die Anleger haben das getragen. Der Grund: Beide Unternehmen waren in eine Lücke gesprungen, welche die technologischen Entwicklungen rund um das Internet in den bestehenden Märkten gerissen hatten. Bei Amazon war es das Onlinegeschäft, bei Palantir ist es die Datenanalyse. Bei Amazon ging es um E-Commerce, bei Palantir um Cyberresilienzen. Während Amazon mit der Intershop AG zunächst noch einen Konkurrenten aus Deutschland hatte, ist Palantir heute allein auf weiter Flur. Denn Europa verpasste in der Digital-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik den Anschluss.

Und die Amerikaner nicht?

Nein. Aber die Amerikaner hatten andere Probleme. In den umstrittenen Kriegen im Irak und in Afghanistan setzten sie nicht nur neue Waffen ein, sondern auch neue Datenplattformen. Drohende Cyberwars hatten damals das Pentagon wie auch kleine Gruppen im Silicon Valley schon im Blick. Dann trat Palantir auf den Plan. Das Unternehmen wurde 2003 von Peter Thiel aus der Taufe gehoben. Der in Frankfurt geborene Amerikaner war 1998 einer der Gründer von Paypal gewesen. Er hatte mit dem Verkauf des digitalen Bezahldienstleisters 2002 rund 55 Millionen Dollar verdient, fortan als Finanzinvestor gearbeitet, in damalige Start-ups wie Facebook oder Spotify investiert und Palantir gegründet.

Die Entwicklung spezieller Informationstechnik zur Erfassung, Überwachung und Auswertung großer Datenmengen. Thiel sah einen Markt, wo viele andere damals nicht mehr als ein Problem sahen. Kein Wunder, er sieht sich gern als „Contrarian“. Er ist sehr reich und gilt als sehr klug, bibelfest und libertärradikal und bürstet Meinungen gern gegen den Strich. Er sieht sich als „Disruptor“ und hat heute wie vor zwanzig Jahren schon unterstrichen, dass digitalisierte Gesellschaften leistungsfähige IT-Systeme zur radikalen Verteidigung ihrer Freiheitsrechte brauchen – und die will er liefern.

Ist das nicht Aufgabe des Staates?

Eigentlich ja. Thiel aber spielte in die Hände, dass der US-Kongress die Finanzierung eines infolge der Terrorattacken vom 11. September 2001 groß aufgezogenen Darpa-Entwicklungsprojektes 2003 wieder stoppte. Der Grund: Das Projekt könnte in eine Massenüberwachung der Bevölkerung münden. Der Stopp aber riss Lücken in die anvisierte US-Sicherheitsarchitektur; und Thiel sprang ein.

Bei Paypal schon hatte er Softwaresysteme zur Erkennung von Finanzbetrügereien entwickeln lassen. Diese Programme wollte er nun für die Terrorabwehr aufrüsten. Dafür holte er einen Paypal-Ingenieur und zwei Stanford-Programmierer.

Der stieß zu dem Quartett, als es darum ging, neue Investoren zu finden. Karp, 1967 in Philadelphia geboren, hatte mit Thiel Anfang der Neunzigerjahre an der Stanford Law School studiert. Wurde Thiel dort radikal rechts verortet, fand sich Karp am anderen Ende des politischen Spektrums wieder. Er las Marx und studierte linke Gesellschaftstheorien. Während Thiel später im Silicon Valley blieb, ging Karp nach Europa. 2000 gründete er mit einer größeren Erbschaft in London seine Investmentfirma Caedmon Group, steckte sein Geld in Aktien und Start-ups und bekam Kontakte zu reichen europäischen Familien. 2002 machte er an der Frankfurter Goethe-Universität seinen Doktor, mit einer sozialpsychologischen Arbeit zur „Aggression in der Lebenswelt“.

Machte ihn das für das Palantir-Quartett interessant?

Nicht wirklich. Aber als Philosoph war er in der Lage, schwierige technische Sachverhalte leicht zu erklären. Dank seiner Londoner Kontakte zu Europas Industrie- und Geldadel fand er für das Start-up hiesige Angel-Investoren. Große US-Risikokapitalgeber wie Kleiner Perkins ließen ihn dagegen links liegen – bis auf einen: In-Q-Tel, der Risikokapitalarm der US-Sicherheitsdienste wie der CIA.

US-Sicherheitsdienste haben einen eigenen Investitionsarm?

Ja. In-Q-Tel war 1999 gegründet worden. Mit dem Ende des Total Information Awareness Program von 2003 steckte der Fonds viel Geld in junge Firmen, die sich auf Big Data, Software und Netzwerke spezialisierten. Palantir war eine davon.

Die CIA. 2005 folgten weitere US-Sicherheitsdienste. Sie setzten die Software unter anderem zur Analyse von Daten aus Krisen- und Kriegsgebieten ein. Heute gehören viele Militärs und Sicherheitsdienste zu den Kunden. Unter anderem soll die Software von Israel für die Geiselsuche im Gazastreifen genutzt werden.

Und die Privatwirtschaft?

Die trat 2009 auf den Plan. Erster Kunde war JP Morgan . Das Bankhaus analysierte mit der Software notleidende Kredite und Vermögenswerte, Handelsdaten, Betrugsmaschen im Internet und verdächtige Transaktionen. Es kontrollierte aber auch das Verhalten seiner Mitarbeiter und ging potentiellen Insider-Gefahren nach. Heute hat Palantir weltweit mehr als 600 Kunden aus der Privatwirtschaft.

Sind auch deutsche Unternehmen darunter?

Ja. Unter den 150 größten Palantir-Kunden finden sich laut öffentlich einsehbaren Listen acht deutsche Unternehmen – von BMW über Mercedes , Traton und ENBW bis zum Pharmakonzern Merck .

Ganz oben auf der Liste steht nach wie vor der amerikanische Staat?

Ja. Der macht knapp 43 Prozent der Palantir-Erlöse aus.

Ist Palantir dabei, sich in den US-Rüstungsolymp hochzuarbeiten?

Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte sich die US-Branche auf Druck Washingtons neu organisiert. Die Zahl der Prime-Rüstungspartner der Regierung ging von 51 auf fünf zurück. Daraus gingen die heutigen Konzerne wie Lockheed Martin, Boeing , Raytheon , General Dynamic und Northrop Grumman samt ihren Zehntausenden Zulieferern hervor. Die wichtigsten Produkte dieser Big Five sind immer noch Panzer, Flugzeuge und Schiffe. Ihr wichtigster Kunde ist immer noch die eigene Regierung. Für Lockheed machte sie 72 Prozent, für Northrop 85 Prozent der Erlöse aus.

Software spielte keine Rolle?

Doch. Aber eine untergeordnete. Die Hardware-Anbieter dominierten viele Jahre lang; die Software-Unternehmen lieferten ihnen allenfalls zu. Das änderte sich erst mit der rasanten Entwicklung des Internets, der Plattformökonomie, der Daten- und Netzwirtschaft.

Gibt es im Silicon Valley nicht Vorbehalte gegen Rüstungskonzerne?

Allerdings. Dabei hatte Lockheed mit seiner Flugzeug- und Raketensparte LSMC in Palo Alto 1955 an der Wiege des Silicon Valley gestanden. So wie die Rüstungsspirale einst in die Lüfte und bis ins All geschraubt wurde, so dreht sie sich heute im Internet.

Bringt das Palantir in eine zentrale Rolle?

Genau. Erstmals seit dreißig Jahren könnte die Front der fünf großen US-Rüstungskonzerne aufgebrochen werden – durch Palantir, das das digitale Daten- und Plattformgeschäft aus dem Effeff beherrscht.

Und das treibt den Aktienkurs?

Ja, maßgebende Analysten meinen, diese sich abzeichnende Entwicklung steht hinter dem seit drei Jahren steil steigenden Kurs und dem außerordentlich hohen Kurs-Gewinn-Verhältnis.