Die neue Bundesregierung bringt ihr erstes großes sozialpolitisches Vorhaben auf den Weg und setzt sich damit über vielfältige Bedenken von Ökonomen hinweg: Das Bundeskabinett will am Mittwoch stärkere jährliche Rentenerhöhungen und eine weitere Anhebung der sogenannten Mütterrente beschließen. Der von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) Ende Juni vorgelegte Gesetzentwurf sieht dafür Mehrausgaben von insgesamt gut 200 Milliarden Euro bis zum Jahr 2040 vor. Diese sollen größtenteils durch höhere Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt an die Rentenkasse aufgebracht werden.
Die Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Monika Schnitzer, warnt Union und SPD indes eindringlich davor, die absehbaren Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rente dadurch weiter zu verschärfen. Was jetzt auf dem Tisch liege, sei „nach hinten gewandt“, kritisierte sie. Mit dem Wunsch, die Rentenanstiege zu stabilisieren, mache man das Problem noch größer, sagte sie im F.A.Z.-Podcast für Deutschland. Nötig seien stattdessen Reformen hin zu längeren Lebensarbeitszeiten und zu einer Dämpfung des Rentenanstiegs, um die jüngeren Generationen nicht zu überlasten.
Kein anderes Land in Europa kopple die jährlichen Rentenerhöhungen ohne Abstriche an den Anstieg der Löhne, betonte Schnitzer. „Die allermeisten koppeln die Renten eigentlich nur an die Inflation.“ Auch Österreich, das hierzulande oft als rentenpolitisches Vorbild dargestellt werde, sei in dieser Hinsicht „sehr wenig großzügig“. Dort gebe es zwar „ganz gute Einstiegsrenten, aber dann steigen die halt nur noch wenig“. Das individuelle Rentenniveau, gemessen am Lohnniveau, sinkt dadurch im Laufe des Ruhestands ab.
Das Problem schneller steigender Renten
Das Rentenpaket der schwarz-roten Regierung sieht vor, den sogenannten Nachhaltigkeits- oder Demografiefaktor zur Berechnung der Rentenerhöhungen bis 2031 auszuschalten. Dies bewirkt, dass die Renten der heute gut 21 Millionen gesetzlich versicherten Ruheständler keinesfalls langsamer steigen dürfen als das Lohnniveau der Arbeitnehmer. Der Faktor sollte eigentlich genau diese Dämpfung herbeiführen, wenn es mehr Rentner und weniger Beitragszahler gibt. Die Mehrausgaben durch dessen Stilllegung belaufen sich dem Gesetzentwurf zufolge auf insgesamt etwa 130 Milliarden Euro bis zum Jahr 2040. Die anderen 70 Milliarden Euro in diesem Zeitraum, etwa vier bis fünf Milliarden Euro je Jahr, fallen durch die weitere Anhebung der Mütterrente an. Hierbei handelt es sich um Rentenansprüche, die Müttern für Erziehungszeiten gutgeschrieben werden, also für Zeiten, in denen sie keine Beiträge gezahlt haben.
Derzeit sind dies für Mütter vor 1992 geborener Kinder gut 100 Euro Monatsrente je Kind, weil es dem Anspruch für zweieinhalb Jahre Arbeit zum Durchschnittslohn entspricht. Für Mütter später geborener Kinder sind es gut 120 Euro, entsprechend drei Jahren Erwerbsarbeit. Diese höheren Ansprüche waren einst damit begründet worden, dass es vor der großen Rentenreform von 1992 andere Vergünstigungen für Frauen gab, von denen Jüngere seither nicht mehr profitieren. Die nun geplante Angleichung auf drei Jahre betrifft mehr als drei Viertel aller heutigen Rentnerinnen.
Diejenigen, die gut abgesichert sind, profitieren
Allerdings werden diejenigen, die davon besonders profitieren sollen, wenig davon haben, wie Schnitzer zeigt: Wer wenig gesetzliche Rente habe, erhalte in der Regel ergänzend Grundsicherung. „Und wenn die jetzt eine etwas höhere Mütterrente erhalten, wird ihnen das eins zu eins von ihrer Grundsicherung abgezogen.“ Es profitierten also vor allem jene, „die ohnehin gut abgesichert sind“. Sie könne sich „nur wundern, warum man denkt, dieses Wahlgeschenk geben zu müssen“, bekannte Schnitzer, die auch Volkswirtschaftsprofessorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ist. Die Mehrausgaben seien keine Stärkung, sondern eine Belastung für das Wirtschaftswachstum. „Damit hätten wir die Senkung der Stromsteuer für alle locker finanzieren können“, betonte sie. Diese Entlastung wurde wegen knapper Kassen vorerst abgesagt.
Stattdessen mahnt Schnitzer Reformen an, die den Anstieg der Belastungen für Beitrags- und Steuerzahler bremsen. Dass es langjährig Versicherten weiter möglich sein solle, vorzeitig abschlagsfrei in Rente zu gehen (die sogenannte Rente ab 63), sei „nicht in Ordnung“. Ebenso bekräftige sie die Mahnung des Sachverständigenrats, das reguläre Renteneintrittsalter an die allgemeine Lebenserwartung zu koppeln: „Unser Vorschlag ist: für ein Jahr mehr Lebenserwartung acht Monate mehr arbeiten und vier Monate mehr Rente.“