An Heiligabend werden wieder rund 25 Millionen Menschen in Deutschland in einer Kirche sitzen, rund zehnmal mehr als an einem normalen Sonntag. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer legen sich darum an Weihnachten ganz besonders ins Zeug. Sie zeigen mit dem Finger auf die Krippe unter der Kanzel und verkünden, dass es Gott selbst sei, der dort als Kind im Heu liegt. Viele Besucher in den Kirchenbänken dürften ihre Zweifel haben.
Der Soziologe Edgar Wunder hat für die F.A.Z. ausgerechnet, dass nur 43 Prozent der Besucher von Weihnachtsgottesdiensten glauben, dass sich Gott in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. Und 36 Prozent von ihnen glauben überhaupt nicht an Gott. Diese Distanz zum Christentum wird von Jahr zu Jahr stärker. Die religionssoziologischen Daten deuten darauf hin, dass sich die europäischen Gesellschaften in rasanter Geschwindigkeit entkirchlichen und entchristlichen. Ein Ende dieser Entwicklung ist derzeit nicht in Sicht.
Gott gegen die Wandertour
Anfangs war die Abwendung von der Religion eine Angelegenheit der Gebildeten. Inzwischen ist es eine Bewegung breiter Schichten. Die Erdbestattung zum Beispiel, die über Jahrhunderte eng mit dem Auferstehungsglauben verwoben war, ist mittlerweile zur Ausnahme geworden. Der Anteil der Feuerbestattungen liegt in etlichen Regionen bei 85 Prozent oder höher. Seine Kinder nicht mehr taufen zu lassen gilt mittlerweile als üblich. Deutschland und viele andere europäische Länder stehen damit inzwischen an einem Kipppunkt hin zu einer postchristlichen Gesellschaft.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Die Kirchen haben diesen Entwicklungen kaum etwas entgegenzusetzen. Zuerst litten sie darunter, dass sie nach dem 11. September 2001 für den islamistischen Terror in Mithaftung genommen wurden, weil über den Kollektivsingular „Religion“ alle Glaubensrichtungen in Misskredit gerieten. Seit bald zwanzig Jahren tragen die Kirchen durch ihren stümperhaften Umgang mit sexualisierter Gewalt aber auch selbst kräftig dazu bei, dass sich der Zusammenhang zwischen Gott und dem Guten auflöst.
Die Quittung dafür ist ein kämpferischer Atheismus in Teilen der Gesellschaft, der am liebsten jedes Kreuz von den Wänden und Berggipfeln reißen möchte. Fast noch gefährlicher für die Kirchen ist allerdings das verbreitete Desinteresse. Gott erleidet in der Wohlstands- und Unterhaltungsgesellschaft Sonntag für Sonntag kleine Niederlagen: gegen die Wandertour, gegen das Wellnesswochenende, gegen das ausgiebige Frühstück. Und die religiösen Fragen entschwinden darüber allmählich aus dem Gesichtsfeld.
Der Widerstand religiöser Fundamentalisten gegen die Moderne ist daher gar nicht so lächerlich, wie er auf den ersten Blick wirkt. Tatsächlich kann man die Moderne als ein Komplott gegen Gott betrachten, deren schärfste Waffen völlig harmlose Errungenschaften wie überlange Fernsehshows am Samstagabend oder die Lebensversicherung sind. Die Religionssoziologie hat die säkularisierende Wirkung solcher Annehmlichkeiten inzwischen breit untermauert.
Distanz statt Verbindung
Der Philosoph Michel Foucault hat den Schubabriss des abendländischen Christentums in seinem postum veröffentlichten „Diskurs der Philosophie“ aber noch früher und tiefer verortet. Nach Foucault hat sich Anfang des 17. Jahrhunderts das gesamte Diskursregime verschoben, also die Koordinaten des Denkens, die bereits feststehen, bevor der Einzelne überhaupt mit dem Denken beginnt. Vor dieser Schwelle um das Jahr 1600 schien der gesamte Kosmos mit der Triade Seele, Gott und Sein verwoben, und die Menschen versuchten, mithilfe ihrer Vernunft der Welt Wissen über diese drei abzulauschen.
Mit René Descartes, Francis Bacon, Miguel de Cervantes und Galileo Galilei dreht sich das Blatt jedoch. Das betrachtende Subjekt zieht sich aus der Welt, die es mittels seiner Vernunft beschreibt, zunehmend zurück, und die Welt wirkt dadurch mehr und mehr wie ein Raster, das man zwar wunderbar vermessen und beziffern kann, das dafür aber weniger Verbindung zu seinem Betrachter hat.
Die klassischen philosophischen Fragen nach dem „Ich-Hier-Jetzt“ geraten laut Foucault darüber aus dem Blick und haben seither keinen Ort mehr. „So trat man in das Labyrinth ein, aus dem das Christentum bis heute nicht herausgefunden hat“, konstatiert Foucault. Man kann zwar weiterhin an Gott glauben, und die Religionen verschwinden durch die Diskursverschiebung auch nicht sofort. Dafür sind sie als kulturelle Formationen viel zu mächtig.
Aber der Religion fehlt die nährende Wurzel, die fortwährende Verknüpfung zum Sein, zu Gott, zur Seele. Ihre Existenz gleicht einem allmählichen Vertrocknen. Das Farbfernsehen, die Versicherungsmathematik und die tiefgefrorenen Frühstückscroissants, die erst auf der Grundlage der neuzeitlichen Mathematik und Technologien möglich wurden, wirken wie ein schädlicher Pilz, der einen mächtigen, aber bereits entscheidend geschwächten Baum befällt. Mit der stark beschleunigten Säkularisierung scheint nun der Stamm für alle sichtbar zu fallen, und die Massen suchen scharenweise das Weite.
Was wird der Gesellschaft dadurch fehlen? Wird ihr überhaupt etwas fehlen? Es gab Versuche, diese Frage in großen historischen Münzen zu zählen, indem man die millionenfachen Verbrechen des Nationalsozialismus und des Kommunismus mit ihrer erklärten Kirchenfeindlichkeit in Verbindung zu bringen suchte. Diese Versuche kranken jedoch daran, dass auch das Christentum in seiner Geschichte keineswegs nur eine unblutige Veranstaltung war und die großen politischen Ideologien auch ihrerseits religiöse Züge trugen.
Die sozialwissenschaftlichen Kleingeldzähler haben immerhin herausgefunden, dass sich kirchentreue Christen überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich engagieren und seltener die AfD wählen. Das war es dann aber auch schon. Für den Satz von Dostojewski, dass, wenn es keinen Gott gibt, alles erlaubt sei, gibt es keine hinreichende Evidenz. Eine weitgehend konfessionslose Gesellschaft verwandelt sich weder in einen allumfassenden Swingerklub, noch grassieren dort Mord und Totschlag.
Eine andere Herleitung
Die Frage ist allerdings, ob man die Folgen des Untergangs des abendländischen Christentums ausreichend vor die Linse bekommt, indem man Statistiken über das Schwarzfahren oder den Ladendiebstahl abgleicht. Denn womöglich glimmt das christliche Ethos und das christliche Menschenbild deutlich länger nach als die Bindungen der Leute an die Kirche als Organisation, wenn allein für deren Erschlaffen schon etliche Generationen erforderlich waren. Dann greifen aber auch alle empirischen Vergleiche zwischen konfessionslosen Dessauern mit kirchenverbundenen Berchtesgadenern ins Leere, und man müsste sich stattdessen stärker mit den Inhalten der konkurrierenden Weltanschauungen befassen.
In der Tat bildet die Annahme, dass Gott sich allen Menschen, aber ganz besonders den schwächsten und bedürftigsten zuwendet, den Kern des christlichen Menschenbildes und der christlichen Auffassung der Menschenwürde. Auch die säkularen Konzeptionen der Menschenwürde zielen auf eine Inklusion der Schwächsten. Aber sie unterscheiden sich in ihrer Herleitung. Die säkulare Menschenwürde beruht auf Gleichheit. Ein paradigmatisches Konzept von Subjektivität wird dafür gedanklich so verallgemeinert, dass es alle umfasst und schützt.
Die Pointe der religiösen Menschenwürde besteht hingegen nicht in der Verallgemeinerung, sondern in der Besonderheit: Dieser ganz konkrete Mensch hat Würde, weil er ganz konkret von seinem Schöpfer geliebt wird. In der ethischen Praxis laufen beide Varianten zwar häufig auf dasselbe hinaus. Aber ihre Wurzeln sind verschieden. Das deutsche Grundgesetz lässt die Frage, auf welche Würdekonzeption es in seinem ersten Artikel abstellt, wohlweislich offen. Und vielleicht ist genau diese gleichgerichtete Doppelung von säkularem und christlichem Personalismus die Grundlage der westlichen Kultur, die ihren Erfolg ausmacht und ihre lang anhaltende Attraktivität erklärt.
Wenn dem so ist, sollte der Säkularismus allerdings nicht laut über seinen Siegeszug über das Christentum in den westlichen Gesellschaften jubeln. Denn das Absterben der christlichen Wurzel des Personalismus geht keineswegs mit einem Erstarken ihrer säkularen Nachbarwurzel einher. Im Moment gilt eher das Gegenteil. Denn im globalen Maßstab erleidet das Projekt der säkularen Moderne derzeit eine Niederlage nach der anderen.
Große Autokratien wie China oder Russland setzten auf Kollektivideologien, die sich ganz offen gegen das Projekt der liberalen Globalisierung richten, im Falle von Putin ist es ein Ethno-Christentum, das auf vermeintlich ewige Ordnungen setzt und damit dezidiert antipersonalistisch ist. Und die Wiederwahl von Donald Trump zeigt, dass das Projekt der Moderne auch in der Kernnation des westlichen Personalismus wankt.
Dort zeigt sich bereits stärker als hierzulande, dass der rasante technologische Wandel nicht nur die Arbeitswelt und die Medienwelt durcheinanderwirbelt, sondern auch zu wilden ideologischen Disruptionen führt. Evangelikale Abtreibungsgegner kämpfen plötzlich Schulter an Schulter mit Elon Musk, der eines seiner Kinder „X Æ A-12“ genannt hat. Und Trumps Vizepräsident J. D. Vance hat sich von einem Atheisten zu einem christlichen Rechten verwandelt, nachdem ihn der deutschstämmige Tech-Milliardär Peter Thiel mit den Gedanken des katholischen Philosophen René Girard vertraut machte.
Die Säkularisierung in Amerika wird all das fürs Erste nicht zurückdrehen. In Europa dürfte sie weiter fortschreiten. Und doch könnte es sein, dass die Karten gleichzeitig auf sehr grundlegende Weise neu gemischt werden. Die Lage scheint so offen wie lange nicht mehr. Ob sich die Architektur unserer Gedankenwelt ebenso grundlegend verschiebt wie beim Epochenbruch, den Michel Foucault auf das frühe 17. Jahrhundert datierte, ist zwar noch längst nicht ausgemacht. Allerdings lief auch der damaligen Zäsur eine Medienrevolution voraus, deren Folgewirkungen erst mit der Zeit spürbar wurden.
Mit Blick auf diese Entwicklung hat ein katholischer Bischof die Wiederkehr eines „Zeitalters der tausend Häresien“ wie in der Spätphase des römischen Reichs vorhergesagt. Damals hat sich die römische Kirche am Ende gegen konkurrierende Weisheitslehren, philosophische Schulen, neue und alte religiöse Kulte sowie etliche weitere Varianten des Christentums durchgesetzt. Aber der Verlauf der Geschichte war damals viel weniger eindeutig, als man im Rückblick glaubte.