Der Mann auf der Liege ist nackt und leblos. Nicht tot, aber zugedröhnt. Die Ärzte drehen ihn auf die Seite, rupfen ihm den provisorischen Verband vom Gesäß. Sein Hinterteil ist völlig offen, ein breiter Schlitz gibt den Blick in das Innere des Körpers frei. Dunkelrotes Fleisch, kaum Fett. Ein bisschen wie beim Metzger. Mit einer Sprühflasche spritzen sie Desinfektionsmittel hinein. Es fließt längst kein Blut mehr. Zwei Tage ist es her, dass Serhij von einer russischen FPV-Drohne getroffen wurde. Vielleicht schlug sie auch irgendwo neben ihm ein. Keiner weiß das so genau.
Überhaupt fließt fast kaum noch frisches Blut in diesem ukrainischen Stabilisierungspunkt unweit von Pokrowsk. Doch das bedeutet nicht, dass die Lage sich für die Verteidiger verbessert hat. Im Gegenteil. Die Rettung der Verwundeten von den vordersten Linien ist nahezu unmöglich geworden. Den russischen Aufklärungsdrohnen entgeht keine Bewegung. Auch die medizinischen Evakuierungsteams werden zum Ziel.

Mittlerweile bleiben die Infanteristen wochenlang auf Position. Sie werden nur ausgetauscht, wenn die Wetterbedingungen es erlauben. Bei Wind und starkem Regen etwa. Werden sie verwundet, müssen sie tagelang auf ihre Rettung warten. Das überleben nicht alle. Mit Vorgaben aus Lehrbüchern hat das nichts mehr zu tun. Die Realität diktiert im Donbass die Bedingungen.
Die Patienten kommen nach Sonnenuntergang
Große Kettenfahrzeuge ziehen summende Drohnen an, wie ein Kuchen die Wespen. Deshalb verwenden die Ukrainer ungepanzerte Autos. Das, was eben da ist: Schmutzige Pritschenwagen mit Störsendern auf dem Dach. Die Schrapnelle durchschneiden ihr Blech wie Butter. Manchmal müssen sich auch Verwundete zu Fuß kilometerweit schleppen.

Die meisten Patienten erreichen den Stabilisierungspunkt, wenn die Sonne gerade auf- oder untergegangen ist. Denn während der Dämmerung sehen die Drohnen schlecht. Für ihre Standardkameras ist es zu dunkel, für die Nachtsichtkameras zu hell. Der Stabilisierungspunkt erhält meist nur eine kurze Vorwarnung über Funk. Die Ärzte wissen dann zumindest, wie viele Patienten man ihnen gleich vor die Tür kippt. Und wie schwer diese verletzt sind: leicht, mittel, schwer. In den silbern verkleideten Behandlungsräumen werden sie eigentlich nicht operiert. Die komplizierten Eingriffe macht man anderswo. Es geht um das Gröbste: Schmerzmittel, Splitterentfernung, Wunddesinfektion. Die Krankenstation liegt ein paar Kilometer hinter den ersten Linien. Doch sie ist trotzdem von russischen Gleitbomben und Drohnen bedroht. Oft geht es für die Verwundeten schon nach wenigen Minuten weiter. Mit einem Krankenwagen über eine Schotterpiste zur nächsten Station.

Auch Serhij kam kurz nach dem Einsetzen der Dunkelheit an. Er ist ein ausgemergeltes Männchen Ende vierzig, im typischen Infanteriealter. Seine Haut ist blass, nur an seinen groben Händen klebt der Schlamm des Schützengrabens. Erst wurde sein Körper nach Verwundungen abgesucht, dann wurde er sediert. Ein paar Splitter im linken Fuß, einige im rechten Bein. Das offene Hinterteil – und dann noch kleine offene Stellen am Kopf. Das Standardformular mit der Silhouette ist voller blauer Kugelschreiberkreise. Über Funk hieß es: mittelschwer verwundet. Neben Serhij liegt sein Besitz. Eine silberne Zigarettenschachtel, ein Feuerzeug und ein paar Hundert Hrywnja.
Wenn Serhij kurz wach wird, sprechen sie mit ihm wie mit einem Kind. „Na mein Held, weißt du wo du bist?“ – „Schließ die Augen, Serjoscha, du brauchst noch eine Mütze Schlaf.“ Nachdem alles desinfiziert ist, hüllen sie den Mann in silberne Folie. Sie soll den Verwundeten warm halten. Schließlich schaut nur noch sein Kopf heraus. Draußen in der Dunkelheit hält ein Transporter. Sie schieben die Trage mit dem Silberpaket hinein. Serhij wird weiterverlegt, er ist stabil. Auftrag erfüllt.
Fast alle Verwundeten wurden durch Drohnen verletzt
Auf den ersten Einsatz des Abends folgen ruhige Stunden. In der Küche schnappen sich alle eine Schüssel Nudeln mit Kohl. Die Ärzte und Sanitäter beginnen zu erzählen. Dass es in diesem Krieg kaum Schusswunden gibt, weiß jeder, der schon mal an der Front war. Die Ärzte aber sagen, es kämen auch kaum noch Verwundete mit Artilleriesplittern im Körper. „Fast nur noch FPVs und KABs“, sagt einer. Zwei Abkürzungen, deren Bedeutung in der Ukraine jedes Schulkind kennt.

FPV steht für First-Person-View-Drohnen. Die Drohnenpiloten tragen Videobrillen, auf deren Bildschirmen die Aufnahmen der eingebauten Kamera übertragen werden. Die kleinen, billigen Drohnen stürzen mit ihrer Sprengladung selbst ins Ziel. Seit einigen Monaten gibt es FPV-Drohnen, die nicht mehr per Funk, sondern mit kilometerlangen Glasfaserkabeln mit dem Piloten verbunden sind. Gegen sie helfen keine Störsender, man kann sie höchstens einzeln vom Himmel schießen. Die von ihnen hervorgerufenen Verletzungen aber sind nicht einzigartig. Die Splitter seien in der Regel nicht von gewöhnlichen Granatsplittern zu unterscheiden, sagen die Ärzte.
KABs hingegen sind Hunderte Kilogramm schwere Gleitbomben, die russische Kampfflugzeuge aus sicherer Entfernung zur Front abwerfen. Sie segeln dank nachgerüsteter Navigationsmodule ins Ziel. Nicht sehr präzise, aber verheerend. Eine Gleitbombe legt schonmal einen ganzen Plattenbau in Schutt und Asche. Soldaten, die einen Einschlag überlebt haben, erkenne man sofort, sagen die Ärzte. Ihre gesamte Kleidung sei voller Staub, als kämen sie direkt aus der Wüste.
Die Bilder auf dem Smartphone gleichen einer Gruselgalerie
Die Mediziner hier blicken düster auf den Kriegsverlauf. Wie könnte es anders sein? Hier werden täglich Verwundete und Verstümmelte abgeladen. Sie treffen täglich auf die armen Seelen, die es erwischt hat. Die Zahl der Verwundeten muss ihnen unendlich vorkommen. Die größte Sorge bereitet den Ärzten aber die Konstitution der Patienten. Sie bekommen hier schon lange keine jungen Männer mit gestutzten Bärten mehr geliefert, wie man sie auf den Armeeplakaten oder in den hippen Cafés in Kiew zu Gesicht kriegt. Der Anteil der Freiwilligen in der Armee wird mit jedem Monat kleiner. Nun kommen vor allem alte, arme Männer vom Dorf. Mobilisierte Infanteristen in ihren Vierzigern und Fünfzigern. Entweder spargeldürre oder beleibte Männer mit zerfurchten Gesichtern. Das heimliche Rückgrat der ukrainischen Armee. Sie sind es, die an den vordersten Linien den höchsten Preis in diesem Krieg zahlen.

Der Anästhesist Marik gewährt den Reportern einen Einblick in die Gruselgalerie auf seinem Smartphone. Ohne jede Regung wischt er mit dem Daumen von einem Verwundeten zum nächsten. Nur zu den krassesten Fällen gibt er einen knappen Kommentar ab. Zu sehen sind geschwollene, blau angelaufene Arme und Beine. Totes, abgeschnürtes Gewebe. Wenn das Tourniquet zu lange dranbleibt, bleibt nur die Amputation. Das machen sie nicht hier. Es sei denn, die Gliedmaße ist schon so weit abgetrennt, dass sie nicht mehr viel braucht. Das wohl bitterste Foto in der Galerie zeigt ein Bein, das unterhalb des Tourniquets dunkelblau angelaufen ist. Eine Verletzung aber fehlt. Das Bein wurde an der Front abgebunden, weil man eine Wunde vermutete. Die Soldaten suchten in der Hektik die Kleidung nach Blutspuren ab. Den Schmerz bemerkt man durch das Adrenalin nicht.

Nur ein Bild lässt sich inmitten der vielen blutigen Aufnahmen nicht finden. „Eigentlich wollte ich euch noch das Bild mit den Maden zeigen“, sagt er. Bei einem Patienten, der lange verwundet auf Position ausharren musste, hatten sich Maden in der Wunde angesiedelt. Das muss nichts Schlechtes sein. Man kann Fliegenlarven zur Wundbehandlung einsetzen. Sie fressen abgestorbenes Gewebe und geben antibakterielle Ausscheidungen ab. Die Methode kam etwa in Feldlazaretten im ersten Weltkrieg zum Einsatz.
Der Anästhesist stammt aus Mariupol
Mitunter müssen sich die Ärzte auch um russische Kriegsgefangene kümmern. Medizinische Versorgung stehe jedem zu, sagen sie einhellig. Wenn sich den Ukrainern ein verwundeter Russe ergibt, nehmen sie ihn mit. Denn im Gegenzug kommt ein eigener Soldat frei – und entgeht so den barbarischen Haftbedingungen in Russland. Auf dem Telefon haben sie das Bild eines Kriegsgefangenen. Um den Kopf wurde ihm ein weißer Verband gewickelt, er verdeckt auch die Augen. Darauf haben sie mit schwarzem Filzstift „Baschkire“ geschrieben. Der verwundete Gefangene aus Baschkirien streckt für das Foto einen Daumen nach oben.

Die Mediziner hier wissen alle, wofür sie kämpfen. Marik, der Anästhesist, kommt aus Mariupol. Aus der Hafenstadt, die die Russen schon im Frühjahr 2022 in einer gnadenlosen Belagerung zu einer Ruinenstadt gebombt haben. Er arbeitete dort in der Geburtsklinik, die Anfang März 2022 bei einem russischen Luftangriff verwüstet wurde und damit zu trauriger Berühmtheit kam. Die Bilder der blutenden, schwangeren Frauen gingen damals um die Welt. Marik erzählt, er habe sich später mit seinen betagten Eltern durch 17 russische Checkpoints zu Fuß aus der besetzten Hafenstadt geschleppt.
Die Assistentin Julia kommt aus Cherson. Der Krieg hat nicht nur ihre Heimatstadt schwer gezeichnet, sondern auch ihre Familie entzweit. Sie trat nach dem Ende der Besatzung der Armee bei. „Vermutlich zu spät“, wie sie sagt. Dem Gefühl, selbst zu wenig zu tun, begegnet man sogar an der Front immer wieder. Der Fahrer Juri kommt eigentlich aus der Westukraine, vor Kriegsbeginn arbeitete er beim Zoll. Dann ging er an die Front, steuerte dort einen Schützenpanzer. Auf dem Handy hat er eine Kompilation: Feuergefechte und Gruppenfotos bärtiger Männer, unterlegt mit Musik.
Am Ende gibt es Klamotten aus einer Kiste
Kann es auch andersherum laufen? Per Befehl vom Stabilisierungspunkt in die Infanterie versetzt? Der Anästhesist verneint. Medizinisches Personal sei gesetzlich vor einer solchen Versetzung geschützt. Wohl auch aus Personalmangel, glaubt er. Bestünde diese Möglichkeit, würden sich gar keine Ärzte mehr zur Armee melden.

Zum Sonnenaufgang wird es noch einmal hektisch. Es kommen zwei Patienten auf einmal, „leicht verwundet“. Die kleine silberne Behandlungskammer füllt sich mit dem Geruch der Gräben: süßlich, erdig und unangenehm modrig. In besonders schweren Fällen zünden sie hier Papier an, um den Geruch zu vertreiben. Binnen Sekunden zerschneiden die Ärzte die schmutzigen Tarnuniformen und suchen die Körper nach Splittern ab. Einer der beiden hat offenbar etwas in die Lunge bekommen. Mit einem Ultraschallgerät fahren sie über die Brust des Soldaten. Die Aufnahmen werden auf den Smartphonebildschirm übertragen. Der Mann hat offenbar Flüssigkeit in der Lunge. Die Ärzte führen von der Seite einen Plastikschlauch ein, durch den die Flüssigkeit abfließen soll. Eine Thoraxdrainage. Der Verwundete muss heftig ausatmen und dabei den Mund geschlossen halten. Bei jedem Räuspern fließt etwas rote Flüssigkeit durch den Schlauch. Sobald das Schlimmste geschafft ist, werden die Wunden versorgt. Eine Ladung Desinfektionszeug, dann den Verband drauf. Und weiter.
Draußen ist die Sonne aufgegangen. Weil die Armeekleidung zerschnitten auf der Erde liegt, bekommen die Verwundeten irgendwelche Klamotten aus einer Kiste. Vor dem Gebäude rauchen sie noch eine Zigarette, bevor man sie wegbringt. Einer trägt ein blau-weiß gestreiftes Poloshirt und eine Dreiviertelhose. Die freien Stellen sind fast vollständig mit Verbandszeug bedeckt.
Mitarbeit: Yulia Serdyukova