Was wir sehen, ist ein fast täglicher, aber dennoch minimaler Geländegewinn für Russland. Wir sind deshalb weit davon entfernt, dass die Front zusammenbricht. Es ist nicht so, dass uns die Lage in einem Sinne umtreibt, die Ukraine könne die Front nicht mehr halten. Aber es ist dringend erforderlich, dass wir unsere Unterstützung aufrechterhalten. Zudem muss man wissen, dass die russische Armee für jeden Meter einen ungeheuren, völlig unverhältnismäßigen Blutzoll entrichtet, von teilweise über 1000 Verlusten am Tag ist die Rede. Das ist Irrsinn.
Die Ukraine muss vorne die Front halten, aber auch das Hinterland schützen, also eigene Truppen, etwa in Ausbildungseinrichtungen, aber auch die Zivilbevölkerung und industrielle Komplexe, insbesondere kritische Infrastruktur.
Das Bild des Krieges hat sich gewandelt, das ist ja keine neue Erkenntnis. Es war immer Quatsch zu glauben, die Lieferung etwa von Leopard-Panzern sei ein Gamechanger. Jeder Panzer war eine wichtige Ergänzung, aber aktuell hat sich in der Ukraine die Bedeutung des Kampfpanzers verringert. Vor allem wegen des Drohneneinsatzes, auf den sich die Ukraine aktuell konzentriert. Gleichwohl werden weiter Panzer benötigt und auch geliefert, wie etwa kürzlich aus Australien. Die Drohne an sich ist, wie gesagt, das, was das Kriegsbild bestimmt – und da sind die Ukrainer ziemlich gut. Schnelle Entwicklungszyklen und eine Produktionskapazität, die im kommenden Jahr bei 10 Millionen Stück unterschiedlicher Typen liegen soll. Das führt aktuell dazu, dass die Frontlinie gehalten wird, bei allen Geländeverlusten in kleinen Bereichen.
Manche behaupten, die Ukraine bekäme aus dem Westen zwar genug, um nicht zu verlieren, aber nicht genug, um zu gewinnen. Wenn man sieht, dass die Russen unter hohen Verlusten nur wenig vorankommt, fehlt vielleicht nicht so viel, um sie zu stoppen oder gar ukrainisches Terrain zurückzugewinnen. Könnte der Westen das nicht leisten?
Grundsätzlich gibt es einen hohen Unterstützungsbedarf, um die Verteidigung zu halten, Artilleriemunition beispielsweise. Diese ist aktuell auch in der NATO Mangelware. Luftverteidigung ist ebenfalls eine Priorität mit langen Lieferfristen. Aber auch Minen und Elemente der elektronischen Kampfführung gehören zu den Topprioritäten. Ebenso braucht es Langstreckenwaffen, um im russischen Hinterland militärische Logistik wie Industrie, Flughäfen oder Treibstoffdepots zu treffen. Die Verfügbarkeit in unseren Lagern war endlich – was abgegeben werden konnte, ist weitgehend abgegeben. Und die Produktionskapazitäten sind ebenfalls begrenzt. Wenn wir heute von neuen Patriot-Systemen reden, betrifft das die Dreißigerjahre. Knapp sind auch Rohstoffe, etwa zur Munitionsherstellung. Außerdem haben die NATO-Staaten, neben der Unterstützung der Ukraine, auch eigene NATO-Verpflichtungen und Fähigkeitsziele bis 2029 und darüber hinaus. Diese Gemengelage führt dazu, dass nicht immer in ausreichendem Maße geliefert werden kann. Meine Schlussfolgerung daraus: Wir müssen den Aufbau der ukrainischen Industrie unterstützen, um im eigenen Land zu produzieren.
Merken Sie in Wiesbaden das Auf und Ab in der amerikanischen Ukraine-Politik, oder gibt es doch eine Kontinuität der US-Lieferungen jenseits von Tagesankündigungen?
Also es gibt ja in Wiesbaden einerseits das Kommando „NATO Security Assistance and Training for Ukraine“ (NSATU), anderseits wird dort auch die bilaterale amerikanische Militärhilfe koordiniert, bei der so genannten Security und Assistance Group to Ukraine (SAG-U). Beide Elemente führt in Personalunion der amerikanische Dreisternegeneral, Curtis A. Buzzard, und bei NSATU bin ich sein Stellvertreter. Uns erreichen dort gemeinsam die ukrainischen Bedarfe und Prioritäten. Die US-Unterstützung wurde aufgrund von politischen Entscheidungen reduziert, das konnten wir nicht ganz kompensieren. Aber jetzt sehen wir nach der kürzlichen Entscheidung in Washington wieder mehr Unterstützung aus Amerika. Da sieht man deutlich Bewegung. Insgesamt koordinieren wir als NSATU derzeit die Lieferung von etwa 18.000 Tonnen an Material pro Monat. Das hat für die Ukrainer einen hohen Wert. Wir haben außerdem nun Zugriff auf einen Fonds von aktuell etwa 100 Millionen Euro, verwaltet von Großbritannien, mit dem wir beispielsweise „urgent needs“, also kurzfristige Beschaffungen, initiieren können. Da wurden kürzlich beispielsweise 300 Quad-Bikes bestellt, welche die neue bewegliche Gefechtsführung im Gelände unterstützen.
Gibt es neben diesen Lieferungen auch gemeinsame Operationsplanung?
Das Mandat besagt ganz klar, dass es nur um die Koordination von Unterstützungsleistungen geht. Wir sind 30 Unterstützernationen, inklusive Australien, Kanada und Neuseeland. Die konzentrieren sich auf drei Säulen: erstens die bereits erwähnte materielle Hilfe. Dazu gehört neben Materiallieferung auch die Instandsetzung. Da sind wir inzwischen gut, ich nenne mal ein Beispiel: Vor ein paar Monaten erhielt die Radareinheit eines Patriot-Systems einen schweren Treffer. Wir haben das Radar dann nach Deutschland zurückbringen lassen – und die Industrie sagte: Totalschaden. Lieferzeit für ein neues Radar: viele Jahre. Damit haben wir uns nicht abgefunden und dann von Wiesbaden aus Leute mobilisiert, richtige Tüftler von der Luftwaffe, denen es gelungen ist, das Radar wieder funktionstüchtig zu machen. Die haben von Montag bis Samstag Sechszehnstundenschichten gekloppt, und im Juli haben wir das Radar in die Ukraine zurückgeliefert. Letzte Woche hatten wir den ersten Treffer mit diesem Radar.
Außerdem koordinieren wir die Ausbildung der Ukrainer, insgesamt bisher etwa 30.000 Soldatinnen und Soldaten. Wobei man sagen muss, dass wir inzwischen auch viel von den Ukrainern lernen, denn die kämpfen jeden Tag. Die Erfahrungen im taktischen Infanteriekampf, insbesondere mit Drohnen, sind von großem Wert für uns. Da müssen wir bei uns viele neue Wege gehen. Und die dritte Säule ist die Zukunftsfähigkeit der ukrainischen Armee, also das Fernlicht, mit besonderem Blick auf die Interoperabilität mit der NATO.
Was ist das Ziel Ihrer Arbeit, wohin führt das alles?
Wir wollen, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Aber wie definiert man „Die Ukraine gewinnt den Krieg“? Auf diese Frage hat niemand eine abschließende Antwort. Letztlich muss die Ukraine für sich selbst entscheiden, was realistisch, was akzeptabel ist und was nicht. Und wir tun alles, damit die Ukraine die besten Rahmenbedingungen für diese Entscheidung bekommt. Aber es geht natürlich auch darum, Russland zu zeigen: Ihr könnt weitermachen, aber wir werden weiter dagegenhalten und die Ukraine unterstützen. Mal sehen, wer den längeren Atem hat. Das ist von der Perspektive nicht zwingend befriedigend, aber das Einzige, was man realistisch sagen kann.
In den vergangenen Tagen war wieder häufiger von der Korruption in der Ukraine zu hören. Ist ihre Arbeit auch davon betroffen?
Dazu kann ich aus eigenem Erleben tatsächlich nicht viel sagen. Munition, die an die Front soll, ist nicht wirklich korruptionsgefährdet. Bei Investitionen in der Ukraine sind in erster Linie die Investoren – der Staat und die Industrie – gefordert, sich um Korruptionsprävention zu kümmern. Die Reaktion auf Kritik an der jüngsten Gesetzgebung in Kiew war ja positiv, und der Präsident hat den Schalter rasch umgelegt. Was ich sagen kann, ist, dass wir im militärischen Bereich sehr vertrauensvolle und stabile Beziehungen haben und dass unsere ukrainischen Partner immer im Sinne des Landes agieren.