Jens Spahn und die Unionsfraktion: Was läuft dort falsch?

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Wie konnte das so schiefgehen? Wie konnte die überschaubare Herausforderung, im Bundestag drei neue Richter für das Bundesverfassungsgericht zu wählen, die Unionsfraktion wenige Monate nach der Bundestagswahl derart aus dem Gleichgewicht bringen, dass sie sich in einen Sommer der Ratlosigkeit und der Sprachlosigkeit zurückgezogen hat?

Hinter der größten Erschütterung der parlamentarischen Machtbasis von CDU und CSU seit 2018, seit die Abgeordneten gegen den Willen der Kanzlerin ihren Fraktionsvorsitzenden vom Hof gejagt haben, steckt mehr als ein Streit über die Auffassung der von der Unionsfraktion zurückgewiesenen Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf zum Strafrechtsparagraphen 218.

Gespräche mit zahlreichen Beteiligten führen zu dem Schluss, dass die Kandidatur von Brosius-Gersdorf nur der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die für die Verantwortlichen günstigere Begründung heißt, das parlamentarische Fundament, das jede Kanzlerschaft braucht, muss sich erst zurechtruckeln, was ein ganz normaler Vorgang wäre. Die ungünstigere lautet, der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn tut sich schwer, den richtigen Umgang mit den 207 Abgeordneten zu finden, von denen doch mehr als 90 Prozent ihn zum Vorsitzenden gewählt haben.

Wie berechenbar ist die Fraktion?

Die Verantwortlichen weisen in diesen Tagen darauf hin, dass die Unionsfraktion der 21. Legislaturperiode besonders schwer zu führen sei. Spahn soll sich beim Treffen der Unionsminister vor der Kabinettssitzung am 30. Juli entsprechend geäußert haben, wie es jemand aus Unionskreisen erzählt. Aus anderen Quellen, die auf der Führungsebene angesiedelt sind, ist zu hören, früher seien die Fraktionen „berechenbarer“ gewesen, die sogenannten soziologischen Gruppen, also etwa die Gruppe der Frauen, die Junge Gruppe oder die Mittelständler, die Wirtschafts- oder die Sozialpolitiker, hätten das Lenken der Abgeordneten damals erleichtert. Es habe auch mehr „Leuchttürme“ als heute gegeben, also Parlamentarier mit Autorität, denen gerade die neuen Abgeordneten erst einmal gefolgt seien.

Zwar heißt es, die habe man immer noch. Außenpolitiker Norbert Röttgen wird als Beispiel genannt. Aber grundsätzlich habe sich das Zusammenwirken in der Fraktion geändert. Dass Merz die Abstimmung über eine Verfassungsrichterin nach deren Scheitern zur Gewissensentscheidung ausrief, dürfte die Bereitschaft der einzelnen Abgeordneten, sich künftig der Fraktionsdisziplin zu beugen, nicht erhöht haben.

Mancher erinnert an die Zeiten, da neue Abgeordnete mindestens in der ersten Legislaturperiode einfach noch machten, was die Fraktionsspitze verlangte. Der eine vermisst sie. Der andere nicht, sieht in solchen Sehnsüchten der Führung vielmehr das Problem. „Viele in der Fraktion werden sich wohl erst daran gewöhnen müssen: Ein Durchregieren wie zu Kauders Zeiten ist vorbei“, sagt Sepp Müller.

Volker Kauder war nach Merkels Wahl 2005 zu einem ihrer engsten Vertrauten geworden und hatte die Fraktion bis 2018 streng und überwiegend in ihrem Sinne geführt. Im Gespräch mit der F.A.Z. sagt Müller: „Viele Mitglieder der Fraktion haben ein größeres Selbstbewusstsein, als man das früher hatte. Das wurde mit der Wahl von Ralph Brinkhaus zum Vorsitzenden sichtbar.“ Brinkhaus hatte 2018 gegen Merkels Willen, die an Kauder festhielt, für den Fraktionsvorsitz kandidiert und gewonnen. Das war ein Zeichen des sich beschleunigenden Verfalls von Merkels Macht nach 13 Jahren Kanzlerschaft.
Merz und Spahn im Juli im Bundestag
Merz und Spahn im Juli im Bundestagdpa

Müller weiß, wovon er redet, denn er hat es eine Hierarchieebene darunter genauso gemacht wie Brinkhaus damals. Im Mai dieses Jahres, eine Woche nach der Wahl von Jens Spahn zum neuen Fraktionsvorsitzenden, bewarb sich der seit 2017 im Bundestag sitzende Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt um den Posten des für Wirtschaftspolitik zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Auch in der vorigen Legislaturperiode war Müller einer der Stellvertreter gewesen. Dieses Mal hatte die Fraktionsspitze allerdings einen anderen Kandidaten vorgesehen: Carsten Körber. Müller wurden angeblich andere Ämter angeboten. Er lehnte ab und konnte den Kampf um den Stellvertreterposten mit etwas mehr als 55 Prozent der Abgeordnetenstimmen für sich entscheiden.

Nach der in der ersten Runde verpatzten Kanzlerwahl eine Woche zuvor fiel dieses kleine Beben öffentlich nicht besonders ins Gewicht. Es untermauert jedoch, was Müller heute sagt: Durchregieren ist nicht.

Was die Lage für Spahn noch komplizierter macht: Müller hat sich nicht per Ost-Quote durchgesetzt. Denn der geschlagene Gegenkandidat Körber ist ebenfalls Ostdeutscher, kommt aus Sachsen. Müller aber ist sehr konsequent beim Ablehnen aller Zusammenarbeit mit der Linken. Zwar rüttelt Spahn nicht am Unvereinbarkeitsbeschluss seiner Partei mit Linken und AfD. Aber schon für die schnelle Wiederholung der Kanzlerwahl hatte die Union die Linke gebraucht. Für weitere Zweidrittelentscheidungen im Parlament – etwa die Wahl von Verfassungsrichtern – ist das nach wie vor so, will man nicht bei der AfD nachfragen. Da ist allzu viel Prinzipienfestigkeit beim Nein zur Linkspartei nicht hilfreich.

Mehrheitsgewinnung mit der Partei von rechts außen ist ein wunder Punkt, der das Klima in der Fraktion beeinträchtigt. Dabei werben nicht einmal diejenigen, die hinter geschlossener Tür darüber nachdenken, ob es nicht doch richtig wäre, der AfD zumindest den ein oder anderen Vorsitz in einem Ausschuss zu überlassen, für irgendeine Form der Zusammenarbeit mit der AfD.

Denn die Erinnerung an den Januar, als der damalige Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz die Abgeordneten in Abstimmungen über eine Verschärfung der Migrationspolitik zwang, bei denen Mehrheiten mit der AfD drohten und es in einem Fall dazu kam, ist noch frisch. Eine Abgeordnete, die nicht genannt werden möchte, erinnert daran, dass mancher nur mit der Faust in der Tasche zugestimmt habe, weil die Bundestagswahl bevorstand und es um Geschlossenheit ging.

Eine Frage des Fingerspitzengefühls

Keine Bedenken, diese schwierige Situation offen zu kommentieren, hat Monika Grütters, Merkel-Vertraute und bis zum Ende der vorigen Legislaturperiode CDU-Bundestagsabgeordnete. Kurz vor der Wahl habe die Fraktion bei der Abstimmung über einen härteren Migrationskurs nicht geschlossen hinter dem damaligen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz gestanden, sagte Grütters kürzlich der Katholischen Nachrichtenagentur. „Für viele von uns war diese Situation unerträglich. In der Fraktion sind Tränen geflossen, auch bei denen, die teils mit zusammengebissenen Zähnen für den Antrag gestimmt haben, um im Wahlkampfendspurt kein falsches Signal zu setzen.“ Danach gefragt, sagt sie, dass die Abstimmung mit der AfD der CDU „mutmaßlich“ geschadet habe.

Am Ende ihrer Antwort zum AfD-Thema wird Grütters grundsätzlich, ohne einen Namen dabei zu nennen: „Für die Fraktionsarbeit braucht es Fingerspitzengefühl, gerade bei knappen Mehrheiten und selbstbewussten Abgeordneten, die ja alle bereits viel geleistet und große Erfahrungen haben. Da kommt ein autoritärer Führungsstil nicht gut an.“ Da ist sie wieder: die Absage ans Durchregieren.

Andere beklagen einerseits, die Führung erkläre ihren Kurs zu wenig, sagen andererseits, man habe oben verstanden, dass mehr geworben werden müsse. Eine erfahrene CDU-Abgeordnete sagt, die gegenwärtige Fraktion sei nicht schwieriger zu führen als andere. „Wir wissen, wann es auf Geschlossenheit ankommt.“ Doch müsse die Führung die Abgeordneten von ihrem Kurs überzeugen. „Unsere Fraktion besteht nicht aus Lemmingen, die irgendwem oder -was hinterherlaufen, sondern aus selbstbewussten Menschen, die ihre Verantwortung kennen.“

Reddig fordert mehr Einsatz für Reformen

Einer der jungen Abgeordneten erklärt, warum man nicht in Ruhe abwarten und dann einfach nicken könne zu dem, was die Führung plant. „Wir kommen nicht mehr in der früher herrschenden Gewissheit in den Bundestag, dort für ein paar Legislaturperioden bleiben und uns Zeit mit unseren Anliegen lassen zu können“, sagt Pascal Reddig im Gespräch mit der F.A.Z. Der hessische Christdemokrat, Jahrgang 1995, hat im Wahlkreis Hanau im Februar das beste Erststimmenergebnis erzielt und zog in den Bundestag ein.

Reddig ist Chef der Jungen Gruppe in der Fraktion, also der Abgeordneten, die am Anfang der Legislaturperiode jünger als 35 Jahre alt waren. Reddig erklärt, warum Abwarten keine Option ist. „Dafür sind die Zeiten zu ungewiss, und deshalb macht es Sinn, sich für die nötigen Reformen früh einzusetzen.“ Er hat nicht das Gefühl, dass von jungen Parlamentariern, die zum ersten Mal im Bundestag sitzen, erst mal erwartet wird, zu schweigen. Reddig erinnert daran, dass die Junge Gruppe sich kritisch zu den Schuldenplänen der Regierung geäußert habe, „weil wir befürchten, dass die Mittel nicht nur für In­frastruktur und Zukunftsinvestitionen verwendet werden“. Doch wurden die jungen Abgeordneten offenbar nicht angewiesen, sich zurückzuhalten. Vielmehr sagt Reddig: „Konstruktive Vorschläge werden in der Fraktion gehört und einbezogen.“

Die derzeitige Unionsfraktion hat einige objektive Merkmale, die das Führen zu einer besonderen Herausforderung machen. Nach 15 Regierungsjahren waren die Abgeordneten von CDU und CSU im Herbst 2018 reif für einen Putsch gegen Kauder. Da Merkel aber Kanzlerin blieb, war eine echte Befreiung und Erholung von den Zwängen des Regierens nicht möglich. Dann beförderte die Pandemie die Berliner Politik in einen Ausnahmezustand, der direkt in eine vermasselte Bundestagswahl mündete.

Erst anschließend, mit Merkels Abtritt und der Wahl von Merz zum CDU-Vorsitzenden und Fraktionschef, ergab sich prinzipiell die Chance zur Erneuerung. Aber die Ampelkoalition geriet so schnell ins Schleudern, dass die Abgeordneten bald wussten: Jede Kritik am Fraktionsvorsitzenden würde als Attacke auf den Mann betrachtet, der die SPD schon nach einer Legislaturperiode wieder aus dem Kanzleramt verjagen könnte. Also, so erinnern sich manche, gab es schon wieder einen Zwang zur Disziplin.

Ein Wahlkampf der Erneuerungsversprechen

Als die Wahl im Frühjahr knapp, aber doch gewonnen war, kamen 208 Unionsabgeordnete unter der Reichstagskuppel zusammen, die Wahlkampf mit einem Erneuerungsversprechen gemacht hatten. Dabei hat die Hälfte von ihnen keine Regierungserfahrung. Zum einen sind das die etwa 40 Parlamentarier, die 2021 erstmals ins Parlament einzogen und im Februar wiedergewählt wurden.

Zum anderen sind es die mehr als 60 bei der Wahl im Februar neu Gewählten. Die einen haben im Bundestag mitansehen können, wie schnell eine Koalition scheitern kann, die anderen haben schon beim Zuschauen von draußen die Sorge entwickeln können, dass so eine Legislaturperiode recht schnell vorbei sein kann. „Im Wahlkampf hieß es immer, diese Wahl sei ,der letzte Schuss‘ für das bisherige Parteiensystem“, sagt Junge-Gruppe-Chef Reddig. „Deshalb ist auch die Erwartungshaltung vieler Menschen, dass wir nicht vier Jahre abwarten, sondern schnell handeln.“

Ein Zusammenhang zwischen dem besonderen Selbstbewusstsein der neuen Abgeordneten und ihrem Lebensalter lässt sich nicht erkennen. Die Hälfte ist in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts geboren, also zwischen 35 und 45 Jahre alt. Jugendlich ungestüm ist man da in der Regel nicht mehr. Die Junge Gruppe in der Fraktion umfasst gerade mal 18 Mitglieder.

Auch die These, dass die neuen, angeblich schwer zu steuernden Abgeordneten ihr Selbstbewusstsein aus besonders starker Präsenz in den sozialen Medien ziehen, ist nicht plausibel. Zwar sind die in dieser Legislaturperiode Hinzugekommenen allesamt bei Instagram vertreten, aber nur ungefähr die Hälfte bei X und Tiktok. Die Followerzahlen sind überschaubar und fallen höchstens bei prominenten Neuzugängen wie dem zu Corona-Zeiten bekannt gewordenen Bonner Virologen Hendrik Streeck auf, der auch zu den Neuzugängen gehört.

Jens Spahn sitzt schon lange im Bundestag

Jens Spahn ist trotz seiner erst 45 Jahre kein Neuer, ganz im Gegenteil. Er sitzt seit 2002 im höchsten deutschen Parlament. Damals war der Sozialdemokrat Gerhard „Basta“ Schröder noch Kanzler, Meinungsbildung über soziale Medien war kein Thema, weil das iPhone überhaupt erst fünf Jahre später in die Hosen- und Handtaschen kam. Andere Zeiten.

Jens Spahn habe viel Erfahrung, sagt eine langgediente CDU-Abgeordnete, aber eine Fraktion habe er vorher noch nicht geführt. „Man spürt, dass er als Minister sagen konnte, was gemacht wird. Aber so kann man eine Fraktion nicht führen.“ Wackelt etwa schon sein Stuhl? Bisher deutet nichts darauf hin. Im kommenden Frühjahr muss er sich der Wiederwahl stellen. „Jens Spahn sitzt fest im Sattel“, sagt die Abgeordnete. „Es müsste ja jemand aufstehen und gegen ihn antreten. Das wäre Unsinn.“

Aber Spahn muss nicht nur zuhören, sondern muss vor allem inhaltlich überzeugen. „Wir sind mit dem Versprechen in den Wahlkampf gegangen, die Schuldenbremse zu verteidigen – und mit dem Slogan von Carsten Linnemann: ‚Einfach mal machen‘“, sagt Fraktionsvize Sepp Müller. „Viel ist davon nicht geblieben. Das spürt man auch in der Stimmung der Fraktion.“