Die Ideen für einen Nationalen Sicherheitsrat klangen oft ambitioniert. So vieles sollte er leisten und immer mehr, je schwieriger die Zeiten geworden sind: Krisen, Kriege, Katastrophen. Jetzt wird es einen Nationalen Sicherheitsrat im Kanzleramt geben, die Pläne sind fertig geschrieben, gerade ist die Geschäftsordnung zur Abstimmung an die Ministerien gegangen, der F.A.Z. liegt sie vor. Aber kann dieser Sicherheitsrat wirklich einen so großen Unterschied machen?
Den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrats (NSR) soll der Kanzler führen, sein Stellvertreter wird der Vizekanzler, weitere Minister gehören zum festen Kreis. 13 Stellen werden für den Sicherheitsrat im Kanzleramt geschaffen, organisiert in drei Referaten und unter der Leitung eines Mannes, der ohnehin zu den meistbeschäftigten des Hauses gehören dürfte: Jacob Schrot, Büroleiter des Kanzlers und Leiter der Stabstelle Nationaler Sicherheitsrat.
Am 27. August soll das Kabinett in seiner Sitzung, ausnahmsweise in einem abhörsicheren Raum im Bundesverteidigungsministerium, die Geschäftsordnung und damit die Einrichtung des Rates beschließen. Am 28. August soll sie in Kraft treten, und die Geschäftsordnung des bisherigen Bundessicherheitsrates, der sich zuletzt vor allem mit Rüstungsexporten beschäftigt hatte, zugleich außer Kraft. Etwa alle zwei Monate dürfte der NSR zu regulären Sitzungen zusammenkommen, und in Krisenfällen kann er kurzfristig einberufen werden. Jeder Minister, der Mitglied ist, kann eine solche Sitzung beantragen, der Vorsitz muss entscheiden.
Kanzleramt und Außenministerium hatten verschiedene Vorstellungen
Aber spannender als diese Zahlen und Fakten wird die Frage sein, wie so ein Rat in den deutschen Regierungsalltag passen soll. Und wie Ministerien es mit den Anforderungen halten, die zum Beispiel gleich im ersten Paragraphen der Geschäftsordnung festgehalten werden, Absatz drei. Aber dazu später mehr.
Die Diskussion um einen Sicherheitsrat gibt es schon lange. In der Welt haben mehr als 60 Staaten ein solches Gremium in der ein oder anderen Form. Am bekanntesten ist der Nationale Sicherheitsrat in Amerika, wo der Nationale Sicherheitsberater nicht nur in der Öffentlichkeit präsent, sondern für den außenpolitischen Berater des Kanzlers in Berlin oft einer der wichtigsten Ansprechpartner ist.
Im Kanzleramt sieht man heute allerdings auch ein Problem darin, dass immer gleich an Washington gedacht wird, wenn es um den Nationalen Sicherheitsrat geht. Dabei müsse jedes Land nach seiner Regierung und Verfassung seinen eigenen Sicherheitsrat bilden, heißt es. Auch aus einem Ministerium heißt es, man finde jetzt eben die Antwort auf die deutsche Realität: Ressortprinzip und Koalitionsregierung. Soll heißen: Bloß nicht zu viel erwarten, klein anfangen.

Es ist ein alter Kritikpunkt der Gegner eines solchen Rates: So mächtig wie bei dem präsidentiellen System in Amerika könne und dürfe er in Deutschland nicht werden. Er wird es auch nicht, das zeigt die Geschäftsordnung. Ebenso wird es keinen Nationalen Sicherheitsberater geben, der auch als öffentliche Figur auftritt. Schrot versteht seine Rolle so nicht, nach allem, was man weiß. Er wirkt nach innen und genießt das Vertrauen des Kanzlers. In der Geschäftsordnung steht unter Paragraph fünf zudem vermerkt, dass Schrot die Geschäfte des NSR in Abstimmung mit dem Chef des Bundeskanzleramts führt, Thorsten Frei (CDU). Aber damit ist noch nicht die Frage geklärt, wie spannungsfrei die Ministerien wirklich mitarbeiten werden.
Auch in Deutschland wird die Idee für einen Sicherheitsrat schon seit Jahrzehnten diskutiert. Unter Olaf Scholz war in der Ampelkoalition konkret über eine Einrichtung gerungen worden. Es ging darum, ob man beim Schreiben der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie nicht auch den Sicherheitsrat aufnehmen sollte. Gerungen haben vor allem das Kanzleramt und das Außenministerium unter Annalena Baerbock miteinander, wie der Rat aussehen und welche Kompetenzen er erhalten sollte.
Rückzug aus Afghanistan als warnendes Beispiel
Als sie des Streitens müde waren, schrieben sie einfach nichts dazu in die Sicherheitsstrategie. Und wie es zu der Ampel passte, sagte die FDP öffentlich trotzdem, dass man einen Sicherheitsrat brauche. Die Pointe ist, dass der neue Sicherheitsrat nun als erstes großes Projekt eine neue Sicherheitsstrategie schreiben soll, wie in Berlin zu hören ist. Im September soll das Personal für den Sicherheitsrat eingestellt werden, im Oktober und November die Arbeit anlaufen.
„Die Bundesregierung weiß, dass die verschärfte Bedrohungslage neue Wege in der Sicherheitspolitik erfordert“, sagt Kanzleramtschef Frei auf F.A.Z.-Anfrage. Der Nationale Sicherheitsrat sei ein Projekt der gesamten Bundesregierung, in diesem Geiste seien die Vorarbeiten innerhalb der Bundesregierung von Ernsthaftigkeit und Gemeinsinn geprägt gewesen. „Ich freue mich, dass es gelingen wird, dieses so wichtige Projekt nach jahrzehntelanger Debatte tatsächlich auf den Weg zu bringen.“
Die zentrale Aufgabe eines solchen Rates war immer klar: Wie gelingt es in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt, die Übersicht zu behalten – und schnell verbindlich und voll informierte Entscheidungen herbeizuführen? Wenn es um mittel- und längerfristiges strategisches Denken geht, aber auch in Krisensituationen. Für Außen- und Sicherheitspolitiker in Berlin war der chaotische Rückzug aus der afghanischen Hauptstadt Kabul im August 2021 nur ein weiteres warnendes Beispiel, dass die Arbeitsweise der Bundesregierung in solchen Krisen an ihre Grenzen stößt.
Ein Untersuchungsausschuss hatte sich in der vergangenen Legislaturperiode mit den Fehlern dieser Zeit beschäftigt. Im Abschlussbericht, der im Februar vorgelegt wurde, sind SPD, Union, FDP und Grüne zwar in Details uneins, aber beschreiben doch einhellig Probleme unter den einzelnen Ministerien und Behörden in der Koordinierung und der Beurteilung der Lage. Schon um wenigstens ein einheitliches Lagebild zu erhalten, schlugen FDP und Union in ihren Schlussfolgerungen einen Sicherheitsrat vor.
Das Sicherheitskabinett soll es nicht mehr geben
Ein einheitliches Lagebild soll nun eine der vordringlichsten Aufgaben des NSR werden. Dafür soll ein Referat zuständig sein, das zweite dient als Geschäftsstelle unter anderem für Einladungen und Protokolle und das dritte für strategische Vorausschau und Planung. Im Paragraph eins der Geschäftsordnung heißt es dazu, der Rat bündele die Erkenntnisse der Bundesregierung zu „übergreifenden Angelegenheiten der nationalen Sicherheit und nimmt eine gemeinsame Lagebewertung vor“.
Wenn der Kanzler bislang seine Minister des Sicherheitskabinetts zusammengerufen hatte, kamen diese jeweils mit den Einschätzungen ihres Hauses zu der Besprechung. Erst mal musste ein Abgleich erfolgen. Jetzt könnte das in den Stunden vor der einberufenen Sitzung bereits geschehen – und die Minister unter dem ersten Tagesordnungspunkt bereits ein umfassendes, geeintes Lagebild erhalten. Das Sicherheitskabinett, das Merz zuletzt öfter einberufen hatte wegen der Lage in Nahost, soll es dann nicht mehr geben.

„Das Ziel eines gemeinsamen Lagebilds und der strategischen Vorausschau ist hervorragend und dringend notwendig“, sagt Claudia Major, Sicherheitspolitik-Expertin und Senior Vice President beim German Marshall Fund. Es müsse nur gelingen, die Ministerien aus ihrem Silodenken herauszubekommen. „Und der Sicherheitsrat muss in den ersten Monaten beweisen, dass er wirklich ein überzeugendes Produkt liefern kann für die Bundesregierung, das die verschiedenen Perspektiven integriert.“
Dafür allerdings, wie auch für die sonstige Arbeit des NSR, müssen die Ministerien sich an Absatz 3 des ersten Paragraphen halten: „Die Mitglieder der Bundesregierung haben den Nationalen Sicherheitsrat über die Planung und Durchführung der Maßnahmen von besonderer Bedeutung auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik laufend zu unterrichten“, steht da. „Sie stellen dem Nationalen Sicherheitsrat alle zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Informationen zur Verfügung.“
Eine gewisse Skepsis bei der SPD
Nur sind Informationen unter Ministerien eine eigene Währung, sie zusammenzutragen und zu bewerten, ist ein wichtiger Ausdruck der eigenen Schaffenskraft. Und damit eine Frage der Macht. Immerhin sitzt im Auswärtigen Amt jetzt ein Parteifreund des Kanzlers an der Spitze, das macht die Zusammenarbeit leichter. Außenpolitik aus einem Guss ist das Stichwort. Aber wird sich auch das SPD-geführte Verteidigungsministerium so fügen, das CSU-geführte Innenministerium? Aus einem Ministerium wird bereits darauf verwiesen, dass mit dem Verschicken der fertigen Geschäftsordnung ja erst die Ressortabstimmung beginne, die Detailarbeit. Also: abwarten.
Friedrich Merz hatte im Wahlkampf hohe Erwartungen geschürt. In seiner außenpolitischen Grundsatzrede im Januar war die Einrichtung des Nationalen Sicherheitsrates eine zentrale Botschaft: Die Bundesregierung werde zu jeder grundsätzlichen Frage „eine gemeinsame Linie finden und diese dann auch gemeinschaftlich vertreten“. Die Zeiten müssten vorbei sein, „in denen europäische Partner aus Berlin andere Antworten bekommen haben – je nachdem ob sie im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt oder im Finanzministerium angerufen haben“. Ein Seitenhieb gegen die Ampel.
In den Verhandlungen mit der SPD für den Koalitionsvertrag war es schon schwieriger. Am Ende konnte die Union den Satz durchsetzen, dass man den Bundessicherheitsrat zum Nationalen Sicherheitsrat weiterentwickele. Aber nur mit dem Zusatz: „im Rahmen des Ressortprinzips“. Das beschreibt zwar eine Selbstverständlichkeit: das Ressortprinzip, das also jeder Minister sein Ressort selbständig und unter eigener Verantwortung leitet, steht im Grundgesetz – gleich nach der Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Aber aus dieser Einschränkung konnte man eine gewisse Skepsis gegenüber dem Rat herauslesen.
Auch Vorschau gehört zu den Aufgaben
Nach der Wahl zum Kanzler wurde es vor allem die Aufgabe von Schrot, die Grundlagen für den Sicherheitsrat zu schaffen. Zahlreiche Gespräche innerhalb und außerhalb der Bundesregierung hat er geführt, in den Ministerien und mit Denkfabriken. Eine möglichste breite Basis schaffen, der Skepsis entgegenwirken. Man hört in Berlin, dass er dafür tatsächlich viel Aufwand betrieben hat. In der Bundesakademie für Sicherheitspolitik hat er Experten kürzlich schon einmal einen Überblick gegeben. Nun soll der Sicherheitsrat als ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung eingerichtet werden, damit er vom gesamten Kabinett getragen wird. Maximale Einbindung ist das Ziel.
Der Sicherheitsrat solle, so steht es am Anfang der Geschäftsordnung „das zentrale Gremium der Willensbildung der Bundesregierung zu übergreifenden Angelegenheiten der Nationalen Sicherheit“ werden. Ressortübergreifend soll er die „wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik an der Schnittstelle zwischen innerer, äußerer, wirtschaftlicher und digitaler Sicherheit“ koordinieren. Weil der Rat eine Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrates ist, soll er auch über Rüstungsexporte entscheiden.
Der Rat soll aber auch Strategieentwicklung leisten, und strategische Vorschau. Dafür soll es bei den regulären Sitzungen gleich nach dem Lagebild einen Tagesordnungspunkt geben, in dem es nicht um akute Gefahren geht, sondern um die Abhängigkeit von Seltenen Erden etwa, den Umgang mit China oder die Cyberabwehr. Die großen Fragen der Zeit. Eingeladen werden können dazu laut Geschäftsordnung auch Vertreter anderer Staaten, der EU, der NATO oder anderer internationaler Organisationen, Fachleute und Vertreter anderer Behörden auch. Ein neuer Aspekt ist, dass auch die Bundesländer Vertreter schicken sollen. Wen genau, lässt sich aus der Geschäftsordnung nicht erschließen. Im Kanzleramt geht man davon aus, dass es je ein Vertreter der sogenannten A- und B-Seite werden sollte: also aus der SPD und der Union. Koalitionsrealität.
Braucht es auch einen Sicherheitsberater?
Dass im Sicherheitsrat aber nicht nur unverbindlich nachgedacht werden soll über die großen Fragen der Zeit, macht ebenfalls Paragraph eins klar: Der NSR „trifft Vorentscheidungen, soweit sie möglich sind, oder bereitet die einschlägigen politischen Entscheidungen des Bundeskanzlers oder der Bundesregierung vor“, steht da. Und: Der NSR „kann abschließend entscheiden, soweit nicht nach dem Grundgesetz oder einem Bundesgesetz ein Beschluss der Bundesregierung erforderlich ist“.
Da wird in der Realität von Koalitionsregierungen die Frage umso wichtiger, wer alles zum Rat gehört: Neben dem Kanzler (CDU) sollen es die Minister oder Ministerinnen des Auswärtigen (CDU), des Inneren (CSU), der Justiz (SPD), der Finanzen (SPD), der Wirtschaft (CDU), der Verteidigung (SPD), der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (SPD), für Digitales (CDU) sowie der Kanzleramtschef (CDU) sein. Andere Minister können hinzugezogen werden, teilnehmen dürfen unter anderem auch die Präsidenten der Nachrichtendienste.
Werden hier die Sozialdemokraten in den nächsten Wochen womöglich noch einmal anmerken, dass sie mit den von ihnen besetzten Ressorts gegenüber der Union in der Minderheit sind: vier zu sechs? Endet die Vernetzung womöglich doch in Doppelstrukturen, welche Rolle wird das Krisenreaktionszentrum im Keller des Auswärtigen Amtes finden, und wie werden die Abteilungsleiter für Außen oder Europa im Kanzleramt sich in diese Struktur einpassen? Den Sicherheitspolitischen Jour Fixe der Staatssekretäre jedenfalls soll es weiter geben, eng verwoben mit dem NSR, wie es aus dem Kanzleramt heißt. Wie die Abteilungsleiter dürfte diese Runde dann eher das alltägliche Geschäft beschäftigen.
„Wir sind noch lange nicht bei hundert Prozent mit diesem Modell eines Sicherheitsrats“, sagt Stefan Mair, Chef der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Aber es ist gut, dass die Bundesregierung jetzt den ersten, den schwierigsten Schritt macht.“ Mair sieht zum Beispiel noch Klärungsbedarf bei der Frage, ob man am Ende nicht doch einen Nationalen Sicherheitsberater brauche, der „auf Augenhöhe mit den Ministern agieren“ könne. „Die Voraussetzung für das Gelingen ist die Bereitschaft der beteiligten Ressorts, Macht abzugeben“, sagt Claudia Major. „Das ist nicht einfach geklärt mit einer Geschäftsordnung.“