Rein persönlich? Dass ich ein wohl gewisses Lebensalter erreicht habe! Je älter man selbst wird, desto mehr blickt man zurück: Die Endlichkeit des Lebens wird einem bewusster. Man spürt, dass man Teil einer Kette ist. Wer war vor mir da? Was haben diese Menschen geleistet, was haben sie unterlassen? Und werde ich heute einer irgendwie gearteten Verantwortung aus der Vergangenheit gerecht?
Sie haben ausreichend Informationen über Anna ermittelt, um ein Buch über sie schreiben zu können. Daher die entscheidende Frage: Gegen welche Konventionen ihrer Zeit hat Anna verstoßen?
Was macht Annas gewöhnliches Leben so ungewöhnlich? Da gibt es mehrere Ereignisse: Anna wurde 1887, noch nicht ganz volljährig, Lehrerin in Cobbenrode, einem Dorf im Sauerland. Bis dahin war ihr Leben keineswegs einfach gewesen: Ihr Vater, ein Schankwirt, starb früh, Anna war da gerade zwölf Jahre alt. Ihre Mutter schickte sie daraufhin nach Steyl, einem Klosterdorf in den Niederlanden. Warum? Annas ältere Schwestern wurden verheiratet, aber mit zwölf war Anna zu jung. Ihr hätte eine Zukunft als Magd bevorgestanden. Davor wollte die Mutter sie offenbar bewahren. Und es gab immerhin einen Beruf, den Frauen damals eigenständig ausüben durften und mit dem sie selbst ihre Existenz bestreiten konnten: Lehrerin. Und die Ausbildung dazu bekam Anna im Kloster in den Niederlanden.
Der Familienüberlieferung zufolge war Anna allerdings nicht unbedingt von diesem Beruf Lehrerin angetan?
“Bekomme ich dann einen Buckel?”, soll sie gefragt haben, als sie von den Plänen hörte. Lehrerinnen wurden damals in vielen Fällen eben auch Frauen, die nicht als normschön galten und es schwer hatten, einen Mann zu finden. Daher Annas Frage.
Damit kommen wir zum Malus des Berufs der Lehrerin im damaligen Preußen: Diese Frauen durften nicht heiraten.
Verrückt, aber wahr. Es war Lehrerinnen per Verordnung verboten, zu heiraten. Der Staat traute ihnen nicht zu, Familie und Beruf zu vereinbaren. Es galt ein Lehrerinnenzölibat. Doch einige Jahre nach ihrer Ankunft im Sauerland verliebte sich Anna in Clemens Vogelheim, dessen Familie im Dorf eine Art lokales Imperium aus Unternehmungen besaß: eine Mischung aus frühem Kaufhaus, Baumarkt, Kulturzentrum, Auktionshalle, Post, Bauernhof. 1891 schreibt Clemens, der Sohn aus gutem Hause, der aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Anna Verse von Heinrich Heine ins Poesiealbum: “Du bist wie eine Blume, so hold und schön und rein …” Dieses Poesiealbum hat es durch die Jahre ins Heute geschafft und war für mich eine wichtige Quelle.