Schonende Narkose: Regionalanästhesie zu selten genutzt

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Stand: 08.08.2025 03:42 Uhr

Eine Teilnarkose, auch Regionalanästhesie genannt, ist für Patienten weniger riskant und viel schonender. Dennoch greifen viele Kliniken in Deutschland standardmäßig zur riskanteren Vollnarkose.

Mehr als 16 Millionen Operationen werden in deutschen Krankenhäusern pro Jahr durchgeführt. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) moniert, dass dabei Patienten unnötig häufig unter Vollnarkose operiert würden, obwohl bei vielen Eingriffen schonendere und risikoärmere Verfahren zur Verfügung stünden.

“Viele Patienten glauben, dass sie bei einer Vollnarkose einfach nur sehr tief schliefen – das stimmt aber nicht”, erklärt Thorsten Steinfeldt, Sprecher der Arbeitsgruppe Regionalanästhesie der DGAI dem NDR-Gesundheitsmagazin Visite. “Eine Vollnarkose ist eher vergleichbar mit einem künstlichen Koma, in das wir die Patienten versetzen.”

Risiken und Nebenwirkungen der Vollnarkose häufig unterschätzt

Bei einer Vollnarkose, auch “Allgemeinanästhesie” genannt, werden über das Gehirn Bewusstsein und Schmerzempfinden ausgeschaltet. Dafür sorgen Narkosemedikamente bestehend aus starken Schlaf- und Schmerzmitteln sowie bei Bedarf Relaxanzien zur Muskelentspannung. “Durch eine Allgemeinanästhesie fallen beim Patienten zentrale Vitalfunktionen aus. Um den Patienten während einer Operation am Leben zu halten, müssen wir diese künstlich ersetzen”, erklärt Steinfeldt, Anästhesiologe an der BK Unfallklinik Frankfurt.

Bei jeder tiefen Narkose fällt zum Beispiel die natürliche Atmung des Patienten aus und muss durch eine mechanische Beatmung ersetzt werden. In der Regel wird dabei ein Schlauch aus Kunststoff in die Luftröhre geschoben, über den der Körper mit Sauerstoff versorgt wird. Durch das Einführen des Schlauchs kann es zu Schäden an den Zähnen oder Verletzungen des Kehlkopfs kommen. Außerdem können die sensiblen Strukturen der Lunge in Mitleidenschaft gezogen werden, was Wassereinlagerungen, ein verkleinertes Lungenvolumen oder eine Pneumonitis, also eine Entzündung des Lungengewebes, zur Folge haben kann.

Gefahr für ältere Menschen

Allgemeinanästhesien, so die Experten der Fachgesellschaft, seien insgesamt im Vergleich zu früher zwar sehr viel sicherer geworden und bei einigen Eingriffen wie zum Beispiel am Herz oder am Oberbauch und bei sehr langen oder komplexen Operationen unverzichtbar. Doch unnötig eingesetzt seien sie aus medizinischer Sicht unbedingt zu vermeiden.

Eine Vollnarkose, so Thorsten Steinfeldt, stelle immer ein Risiko dar und greife tief in die Biologie des Körpers ein. Atmung, Herz-Kreislaufsystem und Gehirn würden belastet, Übelkeit und Kreislaufprobleme nach einer Vollnarkose seien ein häufiges Problem. Zudem litten besonders ältere Patienten nach der Narkose nicht selten unter Konzentrationsstörungen oder Gedächtnisproblemen. Besonders die Gefahr eines Postoperativen Delirs (POD) sei ein nicht zu unterschätzendes Risiko. “Ein POD kann das Leben des Patienten massiv beeinträchtigen und ist nicht selten der Weg in eine betreute Einrichtung”, warnt Steinfeldt.

Die sanfte Alternative: Regionalanästhesie

Im Gegensatz zu einer Allgemeinanästhesie bleibt der Patient bei einer Regionalanästhesie bei vollem Bewusstsein und die Vitalfunktionen sind nicht beeinträchtigt.

Das Grundprinzip einer Regionalanästhesie ist simpel: Unter Ultraschall werden gezielt Nerven blockiert, die das jeweils zu operierende Körperteil versorgen. Dafür wird ein Betäubungsmittel dicht um die Nerven herum injiziert. Von der Injektionsstelle abwärts sind die Nerven in der Regel nach circa 15 bis 20 Minuten für einige Stunden betäubt und damit die Weiterleitung von Schmerzsignalen unterbrochen. Der Schnitt des Skalpells, das Einbringen von Schrauben in den Knochen oder das Vernähen der Operationswunde werden nicht mehr wahrgenommen, weil der Schmerz nicht an das Gehirn weitergeleitet wird.

Je nach Operationsart stehen bei der Regionalanästhesie verschiedene Möglichkeiten zur Wahl: Handelt es sich um einen Eingriff an einem der Gliedmaßen – zum Beispiel Operationen an Hand, Ellenbogen, Fuß, Knie oder Leiste – kommt die sogenannte periphere Nervenblockade zum Einsatz. Möchte man dagegen den gesamten Unterkörper ab einem bestimmten Punkt der Wirbelsäule betäuben, wie etwa bei einem Kaiserschnitt, nutzt man eine Spinal- und Periduralanästhesie.

Die Risiken sind bei den meisten Formen einer Regionalanästhesie laut Fachgesellschaft überschaubar: Bleibende Nervenschäden als Folgen von Nervenverletzungen oder die Gefahr eines versehentlichen Einspritzens des Lokalanästhetikums in ein Blutgefäß sind extrem selten. Blutergüsse können auftreten, bilden sich aber zeitnah zurück.

Geringere Risiken – schnellere Erholung

Wann immer medizinisch möglich, sei darum die Regionalanästhesie die sinnvolle Wahl, unterstreicht Steinfeldt. “Alle vitalen Körperfunktionen bleiben erhalten und die vielen potentiellen Probleme einer Vollnarkose wie postoperative Übelkeit, Erbrechen, mögliche Probleme kognitiver Art umgeht man mit einer Regionalanästhesie. Das ist ein ganz enormer Vorteil.”

Bei einer Regionalanästhesie können die Patienten sofort nach der Operation essen und trinken, sind fit und kommen schnell wieder auf die Beine. Dadurch kommt es viel seltener zu Komplikationen wie Thrombosen oder Kreislaufproblemen. Bei DGAI-Sprecher Steinfeldt stößt es auf Unverständnis, wenn bei all diesen Vorteilen in Deutschland immer noch zu selten Regionalanästhesien durchgeführt würden. “Ich finde es schon sehr seltsam, wenn ich höre, dass jemand unter Allgemeinanästhesie an der Hand operiert wird.”

“Man hört kein Piep und kein Pap mehr vom Patienten”

Dass die Regionalanästhesie trotz ihrer Vorteile in Deutschland häufig noch zu selten zum Einsatz käme, habe verschiedene Ursachen. Einerseits führe die Angst der Patienten vor dem Eingriff und der Wunsch, “nichts mitzubekommen” zur Vollnarkose, berichtet Steinfeldt. Eine umfassende und geduldige Aufklärung der Patienten sei wichtig, um Ängste und Sorgen zu nehmen. Viele könnten es sich nicht vorstellen, die Operation mitzuerleben. Es spreche jedoch auch bei der Regionalanästhesie meist nichts gegen eine Tablette zur Beruhigung. Zudem dürften Patienten während der Operation auch über Kopfhörer Musik hören und einige Kliniken bieten spezielle Brillen, mit denen man Filme schauen kann. Es gäbe also gute Möglichkeiten, sich von der Operation abzulenken. Und manche, so Steinfeldt, fänden es sogar auch spannend, sich von ihm als Narkosearzt berichten zu lassen, was hinter dem aufgespannten OP-Tuch denn gerade gemacht werde.

Experten der medizinischen Fachgesellschaft nennen auch eingefahrene Strukturen in Kliniken als Ursache für zu häufige Vollnarkosen. “Akzeptieren die Operateure, wenn der Patient auch mal wacher ist? Vielen Chirurgen scheint es immer noch der einfachste Weg: Man macht eine Vollnarkose und man hört kein Piep und kein Pap mehr vom Patienten. Das empfindet der eine oder andere Chirurg offenbar als einen Luxusfaktor, den er gerne genießt”, erklärt Steinfeldt.

Die Regionalanästhesie erfordere dagegen etwas mehr Vorbereitung und Kommunikation, sowohl mit dem Patienten als auch im Team. “Von der Prozedur her ist es aufwendiger: Du musst dir Zeit für den Patienten nehmen, du musst auf den Patienten eingehen, du musst ihn während der OP intensiver begleiten”, so Steinfeldt.

Damit Regionalanästhesien in Zukunft häufiger eingesetzt würden, brauche es bessere Aufklärung und den Mut zu neuen Routinen und Abläufen. Steinfeldts Forderung: “Ich würde mir wünschen, dass tatsächlich flächendeckend alle Krankenhäuser so viel Regionalanästhesie anbieten, wie es eigentlich möglich wäre.”