Fall Brosius-Gersdorf: Die SPD ist wütend auf die Union

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Nach rund 100 Tagen, die die schwarz-rote Koalition im Amt ist, werden in der SPD ganz grundlegende Fragen gestellt: Wie kann demokratische Zusammenarbeit gelingen, wenn Absprachen nicht eingehalten werden? Wie belastbar ist die Koalition mit der Union noch?

„Die CDU/CSU muss sich zu klaren Spielregeln des Regierens bekennen“, schreibt Miersch. Es sei berechtigt, dass sich nun mancher fragen möge, wie belastbar die Koalition noch sei. Es ist die Frage nach dem Alles oder nichts.

Die SPD-Abgeordneten kamen am Donnerstagabend noch zu einer eilig einberufenen Schalte zusammen. Auch da: nichts als Wut. Miersch und der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil haben eine schwierige Aufgabe: Die Wut ernst nehmen, aber auch unter Kontrolle halten. Denn auch das steht in Mierschs Brief an die Fraktion: „Jetzt braucht es Stabilität und klare Führung.“ Das Schreiben endet, typisch sozialdemokratisch, mit einem Dank an die Geschlossenheit und das Vertrauen in die Parteispitze. Was bedeutet, dass bei Klingbeil und Co. der Wille weiterhin da ist, die Regierung erfolgreich werden zu lassen. Oder wie es der rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsident Alexander Schweitzer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagt: „Diese Bundesregierung ist zum Gelingen verdammt.“ Er hoffe, dass das alle vor Augen hätten, vor allem Bundeskanzler Friedrich Merz.

Frei sieht eine starke Basis für die Koalition

Der hatte aber in den vergangenen Tagen versucht, möglichst großen Abstand zu dem Streit über die Richterwahl zu halten. Das sei ein Thema für den Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn, hieß es. Der hatte sich am Donnerstag, nach der Verkündung des Rückzugs von Brosius-Gersdorf, vorsichtig geäußert und der Juristin „größten Respekt“ gezollt. Jenseits der sachlichen Auseinandersetzung habe es „herabsetzende und beleidigende Kritik“ an ihr gegeben, die die Unionsfraktion ausdrücklich verurteile. „Ich bedauere, dass diese Lage auch durch die zu späte Ansprache unserer inhaltlichen Bedenken entstehen konnte“, hatte Spahn mitgeteilt.

Als einziger Regierungsvertreter der Union wagte sich am Freitagmorgen Kanzleramtsminister Thorsten Frei aus der Deckung. Er rechne in den kommenden Wochen mit einem neuen Personalvorschlag, sagte er im Deutschlandfunk. Um sogleich das Thema von sich und dem Kanzleramt weg- und zu Spahn hinzuschieben. Frei sei nämlich sicher, dass die Fraktionen von Union und SPD „in der Lage sein werden, in den nächsten Wochen einen Vorschlag zu präsentieren, der dann auch über die Mehrheitsfähigkeit im Parlament verfügt und dafür sorgt, dass die Richter in Karlsruhe ersetzt werden können“.

Dann sagte er noch ein paar Sätze, die dem Motto folgten: Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! Die schwarz-rote Koalition sieht Frei durch die Vorgänge rund um die Richterwahl nämlich nicht gefährdet. Er sei überzeugt, dass die Regierung insgesamt sich auf eine starke Basis in der Unionsfraktion und in der SPD-Fraktion stützen könne. Deswegen habe er auch keinen Zweifel, dass die Zusammenarbeit in der Koalition gut fortgesetzt werden könne.

Die Linke oder die AfD werden gebraucht

Es bleibt also ein Problem der Fraktionen und ihrer Chefs. Auch Miersch zählt in seinem Wut-Brief das schon Erreichte auf. Er sei in den vergangenen Wochen, in denen der Streit über Brosius-Gersdorf schon schwelte, immer wieder auf Spahn zugegangen und habe mit ihm gesprochen. Offensichtlich ohne nennenswerte Ergebnisse. Es gibt keinen gemeinsamen Plan, wie es nun weitergehen soll. Spahn sagte, man werde nun „mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt eine gemeinsame Lösung“ mit der SPD finden.

Die SPD sucht nun nach einer neuen Person, „weiterhin orientiert an fachlicher Exzellenz“. Die Partei hat ja weiterhin das Vorschlagsrecht. Zwar mag die unmittelbare Krise durch den Rückzug von Brosius-Gersdorf erst einmal verhindert worden sein. Aber zwei Schwierigkeiten bleiben. Erstens muss die SPD jemanden für die Richterkandidatur finden, der bei den eigenen Leuten als sozialdemokratisch genug gilt. Sonst setzte sich die Parteiführung dem Vorwurf aus, doch der Union noch nachgegeben zu haben, nur um deren Zustimmung zu bekommen.

Und zweitens sind die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nach wie vor schwierig. Eine für die Richterwahl notwendige Zweidrittelmehrheit gibt es nur mit Linken oder AfD. Wie vor allem die Union damit umgeht – die SPD hat keine Probleme bei der Zusammenarbeit mit der Linken –, geriet angesichts des Streits über die Person Brosius-Gersdorf in den Hintergrund. Aber auch das wird eine Frage sein, die Spahn beantworten muss. Spätestens dann, wenn die SPD einen neuen Kandidatenvorschlag unterbreitet hat.