Wie geht es nach Brosius-Gersdorfs Rückzug weiter?

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Der Rückzug Brosius-Gersdorfs dürfte die Lösungssuche nun einerseits erleichtern, weil sich in der Union zuletzt kein Stimmungswandel zu ihren Gunsten abgezeichnet hatte. Ihre Wahl – und die zweier weiterer Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht – war im Juli im Bundestag kurzfristig abgesetzt worden, weil die Spitze der Unionsfraktion dem Koalitionspartner SPD die zugesagte Unterstützung nicht garantieren konnte.

Andererseits stellt Brosius-Gersdorfs Verzicht die Koalition nun vor ein bekanntes Problem: Sie muss im Bundestag die nötige Zweidrittelmehrheit für die Wahl ihrer Kandidaten finden.

Schon bei der Mitte Juli in letzter Minute geplatzten Wahl hätte die CDU/CSU am Ende auf Stimmen der AfD angewiesen sein können. Das möchten sowohl die Union als auch die anderen Fraktionen eigentlich vermeiden. Doch Gespräche mit der Linken, deren Stimmen dann nötig werden könnten, lehnte die Unionsfraktion ab.

Wer macht nun einen neuen Vorschlag?

Das Vorschlagsrecht für einen neuen Kandidaten liegt nun wieder bei der SPD-Fraktion. Man wolle einen neuen Kandidatenvorschlag unterbreiten, „weiterhin mit klarer Orientierung an fachlicher Exzellenz“, äußerte der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch.

Die Partei steht vor der Schwierigkeit, dass sie mit einer neuen Personalie zeigen muss, für welche Positionen sie steht, und gleichzeitig sicher sein muss, dass die Union dieses Mal zustimmen wird. Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) äußerte am Freitag im Deutschlandfunk, er rechne mit einem Vorschlag in den kommenden Wochen.

Was wollen Grüne und Linke?

Die Grünen wollen nun dafür sorgen, dass zumindest die anderen beiden Kandidaten, der von der Union aufgestellte Bundesarbeitsrichter Günter Spinner und die von der SPD nominierte Staatsrechtlerin Ann-Katrin Kaufhold, Mehrheiten im Bundestag finden – und zwar ohne die AfD. Die Linke fordert ebenfalls keinen Austausch der beiden anderen Kandidaten. Sie will aber, dass sich die Koalition auf gemeinsame Kandidaten einigt, und dass Schwarz-Rot Gespräche mit ihr darüber führt. Linken-Chefin Ines Schwerdtner erneuerte gegenüber dem Portal t-online zudem die Forderung nach einem Vorschlagsrecht für ihre Partei. Bisher haben dieses Recht nur Union, SPD, FDP und die Grünen. Erstere dürfen je drei Richter benennen, letztere je einen.

Ein Aufschnüren des „Gesamtpakets“ für die Richterwahl war nicht im Sinne von Brosius-Gersdorf. Sie wolle die anderen beiden Kandidaten schützen, schrieb die 54 alte Potsdamer Juraprofessorin der Erklärung zu ihrem Rückzug. Es dürfe keine Entwicklung in Gang gesetzt werden, „deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind“.

Vor dem Rückzug: Frauke Brosius-Gersdorf verteidigte sich nach der heftigen Kritik an ihren Positionen zunächst im Fernsehen in der Sendung „Markus Lanz“.
Vor dem Rückzug: Frauke Brosius-Gersdorf verteidigte sich nach der heftigen Kritik an ihren Positionen zunächst im Fernsehen in der Sendung „Markus Lanz“.Picture Alliance

Warum steht Spahn in der Kritik?

Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) war es im Juli nicht gelungen, die nötigen Stimmen für die Wahl von Brosius-Gersdorf zu sichern. Daraufhin gab es heftige Kritik an ihm, vor allem aus der Opposition. Er sei nicht in der Lage, die Fraktion zu führen, hieß es etwa.

Zuletzt kam auch aus der Fraktion selbst Kritik. Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende, Sepp Müller (CDU), ermahnte mit Blick auf die gescheiterte Richterwahl die Fraktionsführung, den Willen der Abgeordneten zu berücksichtigen. „Viele in der Fraktion werden sich wohl erst daran gewöhnen müssen: Ein Durchregieren wie zu Kauders Zeiten ist vorbei“, sagte er der F.A.Z. Volker Kauder war während der Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel (beide CDU) 13 Jahre lang Fraktionsvorsitzender der Union und wurde 2018 nicht im Amt bestätigt.

Der Koalitionspartner SPD verlangte nach dem Rückzug Brosius-Gersdorfs nun noch einmal, dass sich die Union künftig an Absprachen hält. SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil äußerte: „So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen.“ Spahn selbst sagte, er bedauere, „dass diese Lage auch durch die zu späte Ansprache unserer inhaltlichen Bedenken entstehen konnte“. Er versicherte: „Nun werden wir mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt eine gemeinsame Lösung mit unserem Koalitionspartner finden.“

Teile der Unionsfraktion hatten große Vorbehalte gegen die von der SPD nominierte Brosius-Gersdorf. Als Grund wurden unter anderem ihre Positionen zum Schwangerschaftsabbruch und zu einer möglichen Impfpflicht in Corona-Zeiten angeführt. Kurz vor der geplanten Wahl am 11. Juli hatte der Plagiatssucher Stefan Weber dann Fragen zur Dissertation der Staatsrechtlerin aufgeworfen. Brosius-Gersdorf wies die Vorwürfe zurück.

Wie ist die Richterwahl grundsätzlich geregelt?

Wer auf welche Weise und von wem zum Richter oder zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt wird, ist detailliert geregelt: im Bundesverfassungsgerichtsgesetz und seit einigen Monaten auch im Grundgesetz selbst.

Aufgrund von Bedenken, dass Verfassungsfeinde das Gericht oder die Richterwahlen blockieren oder politisch instrumentalisieren könnten, verankerten der Bundestag und der Bundesrat im Dezember 2024 zentrale Regelungen zu Richterwahl, Status und zur Arbeitsweise des Gerichts direkt in der Verfassung.

DSGVO Platzhalter

Dem Bundesverfassungsgericht gehören 16 mindestens 40 Jahre alte Richter an, die sich auf zwei Senate verteilen. Die Amtszeit der Richterinnen und Richter beträgt zwölf Jahre, sie endet vorzeitig, wenn ein Richter 68 Jahre alt wird. Eine zweite Amtszeit ist ausgeschlossen.

Drei Richter jedes Senats müssen aus dem Kreis der Richter an einem obersten Bundesgericht gewählt werden, die übrigen benötigen nur die „Befähigung zum Richteramt“, also ein zweites juristisches Staatsexamen.

Gewählt werden die Richter abwechselnd vom Bundestag und vom Bundesrat. Die beiden Kammern bestimmen auch abwechselnd den Präsidenten und den Vizepräsidenten des Gerichts. Dazu ist jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig.

Nominiert werden die Kandidaten von den politischen Parteien. Dabei hat sich eine informelle Absprache entwickelt, wonach die verschiedenen Parteien abwechselnd Vorschlagsrechte haben. Bis zur nun gescheiterten Wahl der von der SPD vorgeschlagenen Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf lief die Richterwahl in aller Regel geräuschlos ab.

Der Bundesrat wählt direkt die vorgeschlagenen Kandidaten. Im Bundestag gibt es ein mehrstufiges Verfahren: Zunächst wählt das Parlament einen Wahlausschuss mit zwölf Parlamentariern. Erhält ein Kandidat in diesem Ausschuss mindestens acht Stimmen, geht der Wahlvorschlag an den gesamten Bundestag. Hier ist dann eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig.

Was passiert, wenn es keine Einigung gibt?

Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht auch Regeln vor, wenn sich der Ausschuss nicht einigen kann. Ist zwei Monate nach Ablauf der Amtszeit eines Richters noch kein Nachfolger gewählt, muss sich das älteste Ausschussmitglied an das Verfassungsgericht wenden und von dort Vorschläge erbitten.

Dies kam bereits mehrfach vor: Zuletzt benannten die Verfassungsrichter im Mai 2025 selbst in geheimer Abstimmung drei Vorschläge als Kandidaten als Nachfolge für eine frei werdende Richterstelle und leiteten sie an den Bundestag weiter.

Mit der im Dezember beschlossenen Grundgesetzänderung zur Reform des Bundesverfassungsgerichts gibt es erstmals auch einen neuen Krisenmechanismus. Um eine Blockade der Richterwahl zu verhindern, wenn diese also zu lange dauert, kann das Wahlrecht jeweils an die andere Parlamentskammer wechseln.

Wie viel Zeit bleibt jetzt für eine Lösung?

Wie viel Zeit der Bundestag hat, um die Richterplätze zu besetzen, hängt davon ab, wann die Amtszeiten der bisherigen Richter abgelaufen sind. Am längsten wartet bereits Bundesverfassungsrichter Josef Christ auf seinen Ruhestand. Seine Amtszeit endete bereits im November. Vor der vorgezogenen Bundestagswahl kam es aber nicht mehr zu einer Einigung im Parlament über seine Nachfolge. Deshalb forderte der Wahlausschuss des Bundestags das Bundesverfassungsgericht zu Vorschlägen auf.

Im Mai beschloss Karlsruhe dann eine Vorschlagsliste, an deren Spitze Bundesarbeitsrichter Günter Spinner stand. Diesen Vorschlag hat die Union später übernommen. Mit Eingang der Liste beim Deutschen Bundestag am 23. Mai begann eine Dreimonatsfrist: Danach – also ab Ende August – kann der Bundesrat anstelle des Bundestages über die Nachfolge von Christ entscheiden. Sollte es keine Sondersitzung des Bundestages in der Sommerpause geben, wird dem Bundesrat dieses Recht zustehen: Die nächste Sitzungswoche des Bundestages nach der Sommerpause ist erst ab dem 8. September terminiert.

Dies hat auch Folgen für die Nachfolge von Doris König: Für ihren Richterplatz hatte die SPD Frauke Brosius-Gersdorf vorgeschlagen. Königs Amtszeit endete am 30. Juni. Die Wahl im Bundestag für ihre Nachfolge sollte deshalb eigentlich spätestens bis Ende August erfolgen. Andernfalls wird es sich wohl nicht vermeiden lassen, dass das älteste Mitglied des Wahlausschusses am 1. September einen Brief nach Karlsruhe schicken muss, um die Richter um Personalvorschläge zu bitten. Für den Beschluss einer Vorschlagsliste gibt es für das Bundesverfassungsgericht allerdings keine Frist. Es hat also einen Spielraum, wie es mit der Aufforderung umgeht.

Die Verfassungsorgane stehen über solche Fragen traditionell in einem informellen Austausch und nehmen aufeinander Rücksicht. Ist im Bundestag keine Einigung in Sicht, könnten die Richter eine Liste beschließen, um die Politik zur Eile zu treiben. Damit ist aber wohl frühestens Mitte September zu rechnen, da einem solchen Listenbeschluss immer auch Beratungen innerhalb des Richterplenums vorausgehen.

Sollte das Bundesverfassungsgericht auch für die König-Nachfolge eine Liste mit Richternamen nach Berlin schicken, beginnt wieder die Dreimonatsfrist: Diese wird auf jeden Fall bis in die Adventszeit reichen. Die Bundestagsabgeordneten haben währenddessen weiter die Möglichkeit, einen Verfassungsrichter zu wählen. An den Vorschlag aus Karlsruhe sind sie dabei nicht gebunden – in der Vergangenheit kam es mehrmals vor, dass die Politiker auch in dieser Spätphase der Entscheidungsfindung noch einmal gänzlich neue Namen ins Spiel gebracht haben. Erst danach wäre der Bundesrat am Zug.

Noch mehr Zeit besteht bei der Nachfolge von Ulrich Maidowski, für dessen Richteramt Ann-Katrin Kaufhold vorgeschlagen wurde: Seine Amtszeit endet erst am 30. September. Der Wahlausschuss muss also erst am 1. Dezember tätig werden, um das weitere Verfahren in Gang zu setzen. In jedem Fall bleibt Karlsruhe handlungsfähig: Die bisherigen Richter sind verpflichtet, bis zur Wahl ihrer Nachfolger im Amt zu bleiben.