Schon vor ihrem Amtsantritt in der Regierung haben Union und SPD den Weg zu neuen Milliardenschulden für Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben gebahnt. Das soll aber nur die erste Stufe einer Änderung der Schuldenbremse im Grundgesetz sein. Der SPD-Vorsitzende und Finanzminister Lars Klingbeil arbeitet darauf hin, zügig auch die zweite Stufe zu erreichen: eine „Modernisierung“ der Verfassungsregeln, um eine „dauerhaft“ höhere Schuldenaufnahme für „zusätzliche Investitionen“ zu erlauben, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
Bevor die von Klingbeil Ende Juli eigens dazu eingesetzte Expertenkommission ihre Ratschläge liefert, meldet sich nun jedoch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium warnend zu Wort. In einem am Freitag veröffentlichten Gutachten rät er entschieden von der Vorstellung ab, dass sich Deutschland durch eine weitere Erhöhung von Staatsschulden stärken lasse. Vielmehr gerate damit neben der Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auch die Stabilität der Gemeinschaftswährung Euro in Gefahr.
Für den Fall, dass die Fiskalverfassung noch einmal geändert werden soll, fordert das Fachgremium eine Reform, die „die Regelgrenzen der Schuldenbremse von vornherein so ausrichtet, dass die staatliche Schuldenquote stabil bleibt“, wie es in dem Gutachten heißt. Der Beirat beim Finanzministerium ist neben seinem Pendant beim Wirtschaftsministerium das traditionsreichste Beratungsgremium der Bundesregierung. Ihm gehören 35 Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler an. Er arbeitet unabhängig und wählt die Themen seiner Gutachten selbst.
Sind höhere Schulden für öffentliche Investitionen nötig?
Das aktuelle Papier trägt den Titel „Zur Notwendigkeit einer wirksamen Schuldenbremse“. Damit will der Beirat offenbar sicherstellen, dass auch seine Expertise in die Auseinandersetzung über die „Modernisierung“ der Schuldenbremse einfließt. In der von Klingbeil berufenen Kommission sind unter elf Wissenschaftlern nur vier Mitglieder des Beirats vertreten, unter ihnen der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Den Vorsitz führen Niedersachsens früherer Regierungschef Stephan Weil (SPD), der frühere CDU-Haushaltsexperte Eckhardt Rehberg und Ex-Bildungsstaatssekretär Stefan Müller (CSU).
Der Beirat prüft in dem neuen Gutachten unter anderem die politische These, dass höhere Schulden nötig seien, um für ausreichende öffentliche Investitionen und eine funktionierende Infrastruktur zu sorgen. Allerdings findet er keine Bestätigung – auch nicht dafür, dass die seit 2009 geltenden Begrenzungen dem im Weg standen. Einschlägige Studien lieferten „keinen Beleg dafür, dass die Schuldenbremse die staatlichen Investitionen in Deutschland verringert hat“. Die zentrale politische Aufgabe sei letztlich immer die „Priorisierung von Ausgaben, die Wachstum und Zukunftsfähigkeit sichern“.
Der Beirat untermauert dies durch Vergleiche mit Ländern, deren Staatsschulden gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) niedriger sind als in Deutschland. Dessen Schuldenquote lag nach Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Jahr 2024 bei 63 Prozent. Die Niederlande (44 Prozent), Dänemark (28 Prozent) und die Schweiz (32 Prozent) hatten demnach nicht nur längerfristig ein stärkeres Wirtschaftswachstum als Deutschland. Sie schneiden auch in Rankings zur Qualität der Infrastruktur deutlich besser ab. „Die erfolgreiche Entwicklung in diesen Nachbarländern illustriert, dass eine nachhaltige Wohlstandsentwicklung mit niedrigen Staatsschulden unter geeigneten Rahmenbedingungen und Prioritätensetzungen vereinbar ist“, schreiben die Forscher.
Staatsausgaben seit Corona-Krise kräftig erhöht
Besonders in den fünf Jahren seit der Corona-Krise hat Deutschland die Staatsausgaben kräftig erhöht, jedoch großenteils für „nicht-investive“ Zwecke, wie der Beirat zeigt. Und die Staatsquote, der Anteil der Staatsausgaben am BIP, erreichte dabei auch aufgrund der lahmenden Wirtschaft neue Höchststände von 51 Prozent. Zwar ging die Quote bis 2023 wieder etwas zurück. Doch seit den Schuldenbeschlüssen im Frühjahr weisen die Zeichen steil nach oben. Statt etwa 48 Prozent erwartet der IWF nun einen Anstieg auf 52 Prozent bis zum Ende des Jahrzehnts.
Dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wird der Satz zugeschrieben, bei einer Staatsquote von 50 Prozent beginne der Sozialismus. Diesen bemüht der Beirat nicht. Aber er rät der Regierung, das Tor zur Aufnahme von Staatsschulden bei so einer Ausgabendynamik nicht noch stärker zu öffnen. Vielmehr stellt der Beirat „im Hinblick auf eine mögliche Neuregelung der Schuldenbremse“ fest, dass „eine wirksame Begrenzung der Neuverschuldung wichtiger wird als zuvor“.