Warum der Zivilisation die Selbstzerstörung droht

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Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg haben Wissenschafter die «Weltuntergangsuhr» erfunden. Sie warnt bis heute vor einem Atomkrieg – aber nicht nur.

Illustration Simon Tanner / NZZ

Die «Doomsday Clock» – zu Deutsch: «Weltuntergangsuhr» – wurde 1947 vom «Bulletin of Atomic Scientists» erfunden – einem Newsletter, der 1945 auf Initiative von Albert Einstein, Robert Oppenheimer und Wissenschaftern der University of Chicago entstanden war. Diese waren im Manhattan-Projekt am Bau der Atombombe beteiligt gewesen. Nach dem Krieg wollten sie auf die Gefahr hinweisen, dass sich die menschliche Zivilisation durch einen Atomkrieg selbst zerstören könnte.

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Ursprünglich wurde die Weltuntergangsuhr willkürlich auf 7 Minuten vor Mitternacht eingestellt. Als die Sowjetunion 1949 ihre erste Atomwaffe testete, wurde sie zum ersten Mal neu eingestellt, und zwar auf 3 Minuten vor Mitternacht. Am weitesten weg von Mitternacht – 17 Minuten – stand die Uhr 1991, als die USA und die Sowjetunion den Start-Vertrag zur Verringerung strategischer Trägersysteme für Nuklearwaffen unterzeichneten. Im Januar 2025 wurde die Uhr auf 89 Sekunden vor Mitternacht eingestellt. So nah stand die Menschheit demnach noch nie vor der Katastrophe.

Die Uhr wird durch Experten im Wissenschafts- und Sicherheitsrat des «Bulletin of Atomic Scientists» eingestellt. Vorsitzender des Rats ist der Physiker Daniel Holz, Professor an der University of Chicago.

Holz hat für seine Forschung an Schwarzen Löchern und Gravitationswellen prestigeträchtige Ehrungen erhalten. Obwohl ein Schwarzes Loch die Erde zerreissen würde, sollte es in deren Nähe kommen, nennt Holz diese kosmischen Objekte «meinen sicheren Zufluchtsort». Viel wahrscheinlicher als durch ein Schwarzes Loch sei es, dass die Menschheit durch ihre Technologien in die Katastrophe schlittere. Warum, erklärt er im folgenden Gespräch.

Herr Holz, die Atombombe entstand vor 80 Jahren, und der Kalte Krieg ist seit 35 Jahren vorbei. Warum braucht die Menschheit immer noch eine Weltuntergangsuhr?

Die Welt ist heute komplexer denn je, und die existenziellen Bedrohungen für die Zivilisation werden immer grösser. Unser Ziel ist, die grossen Probleme ins Bewusstsein aller zu rücken. Aber nicht einfach, weil wir den Menschen Angst einjagen möchten. Sondern weil wir dazu beitragen wollen, die Katastrophe abzuwenden. Die Weltuntergangsuhr zeigt zurzeit auf 89 Sekunden vor Mitternacht. Unser Ziel ist, sie zurückzustellen.

Nun hat der jüngste Krieg in Nahost das Risiko eines Atomkriegs wieder spürbar gemacht. Haben Sie in den letzten Wochen überlegt, die Zeit auf der «Doomsday Clock» neu einzustellen?

Wir beobachten die weltpolitische Lage ständig, und im Wissenschafts- und Sicherheitsrat haben wir in den letzten Wochen tatsächlich mehrere Sitzungen abgehalten.

Die Uhr wurde noch nie zweimal innerhalb eines Jahres neu eingestellt. Wären Sie also bereit, diese ungeschriebene Regel zu brechen?

Es wäre in der Tat ein ungewöhnlicher Schritt. Aber wir behalten uns das Recht vor, die Uhr jederzeit neu einzustellen, wenn gewichtige Ereignisse uns dazu Anlass geben. Andererseits haben wir nicht den Anspruch, die Weltlage auf den Augenblick genau abzubilden. Wir bemühen uns, alle möglichen existenziellen Risiken nüchtern und gründlich zu analysieren. Das braucht Zeit.

Angenommen, Iran wurde durch den Krieg daran gehindert, Atomwaffen zu bauen – würde das ausreichen, um die Uhr zurückzustellen?

Soweit wir wissen, hatte Iran noch keine Atombombe. Da hat sich also nichts geändert. Aber klar: Je mehr Staaten nuklear bewaffnet sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Waffen in einem Krieg eingesetzt werden. Und dadurch nähme das Risiko der Selbstauslöschung der Zivilisation zu.

Waren die Angriffe auf das iranische Nuklearprogramm dann die richtige Entscheidung?

Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Viele Fragen bleiben offen. Haben die Angriffe Irans Atomprogramm zerstört? Oder wird Iran es einfach heimlich im Untergrund weiterführen? Ist Iran durch die Angriffe möglicherweise erst recht gewillt, Atombomben zu bauen? Und wie reagieren andere Staaten, die vielleicht auch den Bau von Atombomben erwägen? Werden die jüngsten Ereignisse diese Staaten abschrecken oder noch darin bestärken, Atomwaffen zu entwickeln? Wir wissen das alles noch nicht. Im besten Fall führt der Konflikt zu einem Abkommen, das Iran von der nuklearen Bewaffnung abbringt. Ich hoffe, dass zumindest das Bewusstsein für die Risiken eines Atomkriegs wieder geschärft worden ist.

Auf der Welt gibt es gegenwärtig Zehntausende Atomwaffen weniger als während des Kalten Krieges. Warum sollte die existenzielle Bedrohung heute grösser sein als damals?

Für die «Doomsday Clock» berücksichtigen wir nicht mehr nur die nukleare Gefahr, sondern mittlerweile auch andere Risiken, die durch den Klimawandel und durch moderne Technologien entstehen. All diese Risiken sind miteinander verwoben und verschärfen sich gegenseitig. Der Klimawandel kann zum Beispiel Migrationsströme verstärken und zu mehr politischer Instabilität führen. Durch KI steigt das Risiko für die Verbreitung von Desinformation. Das alles zusammen erhöht wiederum das Risiko, dass Kriege ausbrechen.

Ein Krieg muss aber nicht gleich mit dem Einsatz von Atomwaffen einhergehen. Was macht einen Nuklearkrieg heute wahrscheinlicher als vor 40 Jahren?

Das Risiko eines Nuklearkriegs ist leider auch gestiegen. Das letzte noch gültige Abkommen zur nuklearen Abrüstung zwischen den USA und Russland läuft Anfang 2026 aus. Und es ist nicht absehbar, dass die beiden Länder sich auf eine Verlängerung einigen. Vielmehr haben wir es mit einem neuen atomaren Wettrüsten zu tun, an dem sich nun auch China beteiligt.

Hat sich vielleicht auch die öffentliche Wahrnehmung des Risikos eines Atomkriegs geändert?

Absolut, und das macht die Lage noch gefährlicher. Leute, die den Kalten Krieg erlebten, wissen aus eigener Erfahrung, dass sich die Menschheit mehrmals nur knapp an einer Nuklearkatastrophe vorbeimanövriert hat – beispielsweise während der Kuba-Krise 1962. Heute denken viele: «Der Kalte Krieg ist vorbei, die Gefahr eines verheerenden Atomkriegs haben wir hinter uns.» Dabei ist diese Gefahr nach wie vor real. Und moderne Atomwaffen sind viel zerstörerischer als vor 80 Jahren.

Die «Doomsday Clock» erfasst mittlerweile auch das Risiko, das von einer Pandemie ausgehen kann. Nachdem wir die Covid-Pandemie überstanden haben – ist die Menschheit jetzt resilienter gegen eine solche globale Bedrohung?

Wir haben bereits vor der Covid-Pandemie angefangen, biologische Risiken zu betrachten. Und diese Risiken sind seitdem nur noch akuter geworden. Irrsinnig ist, dass wir heute noch schlechter auf eine Pandemie vorbereitet sind als vor dem Ausbruch von Covid.

Wie meinen Sie das?

Die Covid-Impfung war zwar ein Triumph der modernen Wissenschaft. Aber dafür ist die Pandemiebekämpfung – zumindest in den USA – so stark politisiert, dass Fakten und Wissenschaft im öffentlichen Diskurs nicht mehr die Hauptrolle spielen. Sogar selbstverständliche Dinge wie das Impfen werden infrage gestellt. Diese Politisierung und die Missachtung der Wissenschaft sind sehr gefährlich. Aber unter den biologischen Risiken gibt es sogar ein noch grösseres Problem.

Und das wäre?

Es wird immer einfacher, gefährliche Krankheitserreger im Labor herzustellen. Mithilfe künstlicher Intelligenz könnte im Prinzip jeder ohne jegliche Ausbildung das Rezept für ein tödliches Pathogen bekommen.

Wie realistisch ist das? Man müsste schliesslich immer noch Zugang zu hochspezialisierten Labors bekommen, um einen solchen Erreger herzustellen.

Laborgeräte werden immer preisgünstiger. Und man kann auch die Herstellung leicht auslagern. Was Sie sich nur wünschen, das können Sie in einem Labor irgendwo auf der Welt herstellen lassen. Entlang der Lieferkette, von der Beschaffung der Materialien bis zur Auftragsvergabe an Labors, können böswillige Akteure Lücken in der Regulierung ausnützen. Und das alles geschieht vor dem Hintergrund eines Wettlaufs, in dem Firmen Erreger modifizieren, um Wirkstoffe gegen schwere Krankheiten zu entwickeln. Da geht es um Milliardenumsätze. Aber das Problem ist: Dieselbe Forschung kann missbraucht werden, um biologische Waffen herzustellen. Diese Dual-Use-Problematik tritt in der Biotech-Forschung immer häufiger auf.

Trotzdem: Eine KI, mit der man einfach von seinem Wohnzimmer aus eine Biowaffe herstellt, ist beim heutigen Stand der Technik noch Science-Fiction. Müssen wir uns jetzt wirklich darüber Sorgen machen?

Vielleicht nicht heute, aber möglicherweise schon bald. Wenn wir auf dem gegenwärtigen Pfad weitergehen und KI zu lasch regulieren, kann ein solches Szenario irgendwann eintreten. Zumal die Entwicklung von KI ebenfalls der Dynamik eines Wettrennens folgt. Jeder will unbedingt gewinnen – ungeachtet der möglichen Risiken.

Die Menschheit geniesst heutzutage dank technologischer Entwicklung so viel Wohlstand wie noch nie. Sagen Sie, dass gleichzeitig das existenzielle Risiko für die Zivilisation grösser denn je ist?

Ja. In den letzten 100 Jahren haben wir mächtige Technologien erfunden, die auch ein enormes Zerstörungspotenzial entfalten können. Dabei wissen wir eigentlich, wie all diese Technologien sicher, friedlich und zum Wohl aller eingesetzt werden können. Wenn wir aber mehr und mehr Atomwaffen bauen, KI ohne jegliche Regulierung entwickeln und fossile Energieträger bis zum letzten Tropfen verbrennen, wird es über kurz oder lang zur Katastrophe kommen.

Sind wir etwa nicht intelligent genug, um unsere eigenen Erfindungen rational zu nutzen?

Das weiss ich nicht. Fest steht nur, dass wir uns noch nicht in die Luft gejagt haben.

Wie optimistisch sind Sie, dass wir das auch in Zukunft nicht tun werden?

Nicht besonders optimistisch, ehrlich gesagt. Viele der wichtigsten Entscheidungen, die wir als Menschheit treffen, sind irrational und alles andere als faktenbasiert. Glücklicherweise sind diese Herausforderungen überwindbar, und es liegt in unser aller Interesse, diese Risiken zu verringern. Jeder einzelne Mensch auf der Erde könnte alles verlieren. Daher ist es sinnvoll, dass wir alle zusammenarbeiten, um den Fortbestand der Zivilisation zu sichern. Aber die Lage ist ernst. Wir haben nicht mehr viel Zeit zum Gegensteuern.