Der Sommer des Hasses und der Gewalt, der sich vor einem Jahr in englischen Städten zutrug, bot dem damals gerade ins Amt gekommenen Premierminister Keir Starmer und seiner Innenministerin Yvette Cooper auch die Gelegenheit, sich zu beweisen. Sie agierten entschlossen und hart, mehr als 1500 Teilnehmer an den Ausschreitungen gegen Asylbewerber-Unterkünfte wurden festgenommen, mehr als 1000 angeklagt.
Gefängnisstrafen gegen die Verurteilten waren eher die Regel als die Ausnahme, sie wurden auch gegen jene verhängt, die im Internet zu Gewalt oder Brandstiftungen gegen Flüchtlingsheime aufgerufen hatten.
In diesem August herrscht neue Sorge. In vielen Orten steht die Polizei in der Ferienzeit in Alarmbereitschaft. Neue rechtsextremistische Gruppierungen wie die „Homeland“-Partei haben zu Protestaktionen vor Hotels aufgerufen, in denen Asylsuchende untergebracht sind.
Stellungnahmen klingen verzagt
Aus neuen mutmaßlichen Straftaten oder vermeintlichen Vorfällen werden Protestzünder gebastelt. Sie haben nicht das schockierende Ausmaß der Bluttat von Southport vor einem Jahr, bei der eine Messerattacke auf einen Freizeitclub drei junge Mädchen das Leben kostete.
Aber in Epping im Norden von London genügte vor ein paar Wochen die Meldung, ein äthiopischer Asylbewerber sei wegen sexueller Belästigung einer Minderjährigen angeklagt worden, um vor dessen Unterkunft mehr als 1000 Demonstranten zu versammeln. Es gab vereinzelte Ausschreitungen und Festnahmen.
Dieses Mal klingen die Stellungnahmen und Kommentare aus Westminster eher verzagt als robust. Labour-Wirtschaftsminister Jonathan Reynolds sagte etwa, die Regierung teile „die große Frustriertheit“ der Demonstranten über die Mängel im Asylverfahren, die dazu führten, dass in einer Zeit großer Wohnungsnot Asylsuchende in Hotels untergebracht würden. Und auch Innenministerin Cooper äußert sich zurückhaltender.
Sie griff in dieser Woche Vorwürfe auf, die von der rechtspopulistischen Partei Reform UK in Bezug auf eine andere Anklage einer Sexualstraftat erhoben worden waren. Zwei Afghanen sollen im mittelenglischen Nuneaton eine Zwölfjährige vergewaltigt haben.
Ein Dilemma für die Innenministerin
Der Chef des Kreistages, ein neunzehnjähriger Reform-Aktivist, warf der Polizei anschließend „Vertuschung“ vor, weil die nicht mitgeteilt habe, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Asylbewerber handelt. Die Innenministerin kommentierte das mit der allgemeinen Wendung, die Polizei müsse schon „möglichst große Transparenz“ herstellen.
Coopers unbestimmte Zurückhaltung ist Ausdruck einer grundlegend verschobenen politischen Lage. Erstens trägt sie mittlerweile die Verantwortung dafür, dass die Zahl illegaler Schleusungen von Migranten an die englische Küste weiter steigt statt sinkt, und zweitens hat Reform, die Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage, seit dem Frühjahr den Spitzenplatz in Meinungsumfragen inne – Farage könnte aktuell mit einer Regierungsmehrheit im Unterhaus rechnen.
In dieser Lage stürzt Coopers Rücksicht auf Ressentiments der Reform-Partei die Polizei und Sicherheitsbehörden in ein Dilemma.
Farage hatte vor einem Jahr schon, nach der Bluttat von Southport, in Fernsehauftritten orakelt, man wisse nicht, ob die Polizei „die ganze Wahrheit“ über den Fall ans Licht lasse. Die Gerüchte, der Täter sei ein illegal eingereister Asylbewerber, die sich in sozialen Medien rasch verbreiteten, heizten damals die Aggressivität der Proteste dramatisch an. Die Polizei sah sich außerstande, seine Identität preiszugeben, da es sich um einen Jugendlichen handelte. Erst nach einem richterlichen Beschluss konnte mitgeteilt werden, dass der 17 Jahre alte Angeklagte Alex Rudakubana ein im Inland geborener Sohn ruandischer Eltern war.
Besondere Regeln bei Prozessen
Viel häufiger als Persönlichkeitsrechte von Minderjährigen hindern die Polizei die Vorschriften der Strafprozesse daran, Einzelheiten von mutmaßlichen Tätern bekanntzugeben. Da die meisten Strafprozesse vor Jury-Gerichten stattfinden, hat die Regel Gewicht, dass vor der Hauptverhandlung keine Informationen öffentlich werden sollen, die deren Urteil beeinflussen könnten. Sobald ein Untersuchungsgericht Anklagen prüft, werden mindestens Namen und Alter der Tatverdächtigen bekannt; Rückschlüsse auf ihre Herkunft sind dann oft möglich.
Zudem orientiert sich die Polizei an Verhaltensregeln, die von der englischen Polizeiakademie entwickelt wurden. Die legen fest, dass bei Festnahmen lediglich Alter und Geschlecht von Verdächtigen zu veröffentlichen seien, bei Anklagen außer Namen und Adresse womöglich auch der Beruf, falls dies für den Tatzusammenhang relevant sei. Die Innenministerin hat jetzt die Polizeihochschule aufgefordert, diese Regeln zu überarbeiten – und damit zugleich die Verantwortung von sich abgehalten.
Fälle aus der jüngsten Zeit zeigen aber, dass die Polizeibehörden durchaus eigene Spielräume nutzen, um je nach Lage angemessen reagieren zu können. Der Auto-Attentäter, der Ende Mai in die Menge feiernder Fußballfans in Liverpool fuhr, wurde von den Ermittlungsbehörden rasch öffentlich als älterer Mann ethnisch weißer Herkunft identifiziert, um die Ausbreitung von Gerüchten über den Täter zu verhindern. In Nuneaton war nach der Anklage der Tatverdächtigen klar, dass es sich um Afghanen handelte. Welchen Aufenthaltsstatus die beiden haben, war nach Ansicht der Behörden für den Tatzusammenhang irrelevant.
Der Chef der Vereinigung britischer Polizeipräsidenten, Ben-Julian Harrington, appellierte jetzt an die Öffentlichkeit, „sorgfältig alle Informationen zu wägen, die sie online lesen oder teilen“. Es sei notwendig, sich der Motive bewusst zu sein, die hinter diesen Inhalten stehen könnten. Vor einem Jahr hatte noch Premierminister Keir Starmer persönlich eine solche Warnung geäußert.