Kurz vor Kostjantyniwka hat die Armee die Straße mit Fischernetzen überspannt. Da kommen die Drohnen nicht durch.
Zehn Uhr. „Abfahrt!“ Hauptmann Zhenja lächelt dieses Lächeln, von dem man nie weiß, ob es nett ist oder ironisch. „Gleich sind die Vormittags-KABs durch.“
KAB, das ist das ukrainische Kürzel für die schweren Gleitbomben, die jetzt jeden Tag auf Kostjantyniwka fallen. Kostjantyniwka liegt an der Front im Donbass, es ist der letzte Vorposten der Ukrainer vor der grauen Zone. Die Russen haben die Stadt von drei Seiten umzingelt, und jeden Tag ziehen sie den Sack ein wenig enger zu. Jetzt kommt man nur noch von Norden rein, und dauernd sind kleine, böse Killerdrohnen in der Luft.
Bei den schweren KABs ist das anders. Die sind viel wuchtiger, aber sie sind nicht immer da. Sie kommen jeden Tag zur gleichen Zeit: vormittags zwischen neun und zehn und abends wieder zwischen neun und zehn. „Die Russen haben halt Dienstpläne“, sagt Hauptmann Zhenja. „Darauf könnt ihr euch verlassen.“
Jetzt sitzt er lässig im Fahrtwind auf dem Rücksitz, das Gewehr durchgeladen. Er sitzt links, denn links sind die Russen, und von links kommen also auch die Drohnen. Das Fenster ist offen, damit er ihr Surren hören kann, und wenn sie dann auftauchen, kann er sie vielleicht abschießen. Ein Gewehr mit grobem Schrot ist da das Beste. Einmal hat er auch eine runtergeholt, sagt er. Allerdings nur auf dem Übungsplatz.
An manchen Stellen fehlen die Netze noch, nur die Pfähle sind schon da. Gegen die Drohnen hilft dann ein Schrotgewehr.
Über der Stadt steht eine Rauchsäule. Die Vormittagsbomben.
In den Kessel von Kostjantyniwka führen noch genau zwei freie Straßen. Sie laufen parallel, eine breit, eine schmal, ganz nah beieinander. Die breite Straße nimmt kein Mensch, denn sie läuft durch offenes Land und gibt keine Deckung. So fahren wir also auf der schmalen. Links und rechts alte Wohnblocks, Gehölze und hingekauerte Dörfer mit Eternitdächern. Von den Strommasten hängen zerrissene Kabel, im Graben liegen Autowracks. Manchmal ziehen zerschossene Fabriken vorbei – die Reste von dem, was einmal das Donbass war, das industrielle Herz der Ukraine mit seinen Kohlegruben und Walzwerken. Russland hat hier seit 2014 eine Stadt nach der anderen erobert, und als Nächstes ist vielleicht bald Kostjantyniwka dran.
„Wenn diese Straße kaputt ist, sind unsere Jungs im Kessel abgeschnitten.“
HAUPTMANN ZHENJA
Der Asphalt ist gut. „Wir reparieren jeden Tag“, sagt Zhenja. „Nach jedem Treffer ist gleich der Bautrupp da. Wir müssen schnell sein, denn wenn diese Straße kaputt ist, sind unsere Jungs im Kessel abgeschnitten.“
Die russischen Gleitbomben kommen jeden Tag zur gleichen Zeit: vormittags zwischen neun und zehn und abends wieder zwischen neun und zehn.
Hauptmann Zhenja ist ein ukrainischer Presseoffizier von der 28. Mechanisierten Brigade. Er stammt aus Mariupol gleich in der Nähe am Asowschen Meer, und er sagt, Mariupol war die beste Stadt im ganzen Donbass. Es gab das Meer, es gab Szenemusik beim Gogolfest, und es gab das M-Fest am Strand. Jetzt ist Mariupol verloren, seine zwei gewaltigen Stahlwerke Schrott. Die Russen haben die Stadt 2022 besetzt, und seither ist Zhenja nie wieder dort gewesen. Was ihm geblieben ist: die russische Muttersprache. In den Gruben und Kokereien des Donbass kamen früher die Malocher aus der ganzen großen Sowjetunion zusammen. Alle Völkerschaften mischten sich, die gemeinsame Sprache war Russisch. Das ist bis heute so, ganz gleich, ob einer zu Moskau hält oder zu Kiew.
Zhenja hält zu Kiew. Er hat in Moskau studiert, und die Moskauer haben ihm nicht gefallen. Er fand sie arrogant, und er mochte es nicht, wenn sie Ukrainer „Kochol“ nannten. Das ist ein Schimpfwort aus alten Zeiten.
Kurz vor Kostjantyniwka hat die Armee die Straße mit Fischernetzen überspannt, da kommen die Drohnen nicht durch. Zhenja nimmt sein Gewehr aus dem Fenster, er hat da etwas, was er uns zeigen will. Ein Video von seiner Helmkamera. Ein Reporter der „New York Times“ wollte tote Russen sehen. Zhenja führte ihn durch die Gräben bis nach vorne, alles war ruhig, aber plötzlich ging der Höllentanz los. Überall Knattern und Schreien – sie waren in einen russischen Infanterieangriff geraten. Da, wo der Angriff beginnt, wird das Video wacklig. Laufschritt, Schützengräben, Rufe, dann der Lauf von Zhenjas Gewehr. Es vibriert beim Feuern. Zhenja hat überlebt, aber bei einem anderen Einsatz ist unlängst sein Vorgesetzter getötet worden.
Kein Mensch auf den Straßen, die Grünanlagen sind zugewuchert.
Das Auto nähert sich jetzt Kostjantyniwka. Über der Stadt steht eine Rauchsäule. Die Vormittagsbomben. Der Qualm steigt noch hoch, aber es ist fast schon elf, und das heißt: keine KABs mehr bis zum Abend. Nur auf die Drohnen muss man noch aufpassen. Die können immer wie aus dem Nichts auftauchen, und auf den letzten 400 Metern vor den ersten Blocks am Stadtrand bittet Zhenja deshalb um Vollgas. Das Fischernetz war hier alle, es gibt keinen Schutz, also bitte 160 km/h bis zwischen die Häuser.
In der Stadt ist es dann ein wenig sicherer, die Häuser geben Deckung. Außerdem gibt es noch ein paar ganz normale Bürger, und vielleicht haben die russischen Drohnenpiloten ja keine Lust, allzu viele von denen gleich mit umzubringen, wenn sie Jagd auf ukrainische Soldaten machen. Sicher ist das allerdings nicht. Erstens sind die Zivilisten hier mittlerweile rar, die meisten sind geflohen. Und zweitens, sagt Zhenja, ist es den Russen auch oft egal, wen sie treffen. Wenn die Batterie leer ist und die Drohne sowieso gleich abstürzen wird, bringen sie halt um, wen sie gerade finden. Zhenja sagt, dafür gibt es Prämien.
Trotzdem benutzen die Soldaten hier am liebsten zivile Autos, möglichst alt und verbeult wie die meisten anderen in Kostjantyniwka. So fallen sie nicht auf, und wenn es dann doch ein Armeefahrzeug sein muss, dann schweißen sie einen Schutzkäfig aus Stangen und Maschendraht drum herum. Das Auto sieht dann zwar aus wie ein rollender Hühnerstall, aber die Drohnen kommen schwerer durch.
„Seit es die Drohnen gibt, ist der Krieg nicht mehr, wie er war. Er ist nicht mehr so sichtbar.“
HAUPTMANN ZHENJA
Kein Mensch auf den Straßen, die Grünanlagen sind zugewuchert. Obwohl die Russen seit Wochen ständig angreifen, scheinen die meisten Häuser intakt. „Seit es die Drohnen gibt“, sagt Zhenja, „ist der Krieg nicht mehr, wie er war. Er ist nicht mehr so sichtbar.“ Drohnen sind klein und tödlich, sie treffen viel genauer als früher die Geschütze. Sie töten mit kleinen Ladungen, der Sachschaden ist manchmal minimal. Und wenn es oben surrt, heißt es schnell sein. Ab in die nächste Einfahrt oder unter einen Baum. Da bleiben sie vielleicht in den Ästen hängen. „Man muss zur Maus werden“, sagt Zhenja.
Das gilt auch für so große Waffen wie eine Panzerhaubitze. Wir besuchen sie in einem Versteck, und Zhenja schärft uns ein, auf keinen Fall zu schreiben, wo. Nur so viel also: Das Geschütz, eine betagte amerikanische M109 von fünfundzwanzig Tonnen, steht in einer getarnten Grube, die Erde ist mit Brettern und alten Türen abgestützt. In einer anderen Grube sitzt die Besatzung. Die Männer spielen „Durak“, ein Kartenspiel so ähnlich wie Mau-Mau, und warten auf den Feuerbefehl. Wenn der kommt, rennen sie rüber in die Haubitzengrube, der Motor dröhnt auf, das Geschütz rattert ins Freie. Ein paar Donnerschläge, und nach wenigen Minuten ist der Koloss wieder in seinem Loch. Wie eine Maus eben.
Und dann doch noch ein Mensch auf der Straße. Eine Frau mit Gummischlappen. Sie schiebt ihr Fahrrad durch die Mittagshitze, am Lenker hat sie Einkaufstüten.
„Wir wollen Sie etwas fragen“, sagen wir. Die Frau geht schneller.
„Warum sind Sie noch da?“ Die Frau dreht uns den Rücken zu.
„Wieso sind Sie nicht weg, wie alle anderen?“
„Und wo bitte soll ich hin?“ Die Frau sieht uns nicht an, steigt aufs Rad. „Zu diesen Westukrainern etwa? Was glaubt ihr, was die da machen, mit solchen wie uns?“ Die Frau fährt weg.
„Das ist das russische Fernsehen“, sagt Zhenja später. „Da erzählen sie den Leuten, dass die Ukrainer jeden ins KZ stecken, der Russisch spricht.“ Schon vor der Abfahrt hatte er uns gewarnt. „Die Leute sind wütend“, hatte er gesagt. „Sie sind verzweifelt, sie sind allein, und ich kann sie sogar verstehen. Sie werden euch anschreien und an den Ärmeln zerren, wenn sie sehen, dass ihr Journalisten seid. Fast alle sprechen hier nur Russisch, und manche glauben, die Ukraine ist schuld an dem ganzen Elend.“
„Viele?“
„Ich weiß nicht. Aber von denen, die noch da sind, hoffen sicher einige, dass die Russen bald einmarschieren.“
Kurz danach in einem mit Gerümpel gefüllten Hinterhof gleich am Tuberkulosespital fünf Männer mit schmutzigen Händen, dazu eine Frau, ein Hund und zwei Katzen. Sie haben es sich im Schatten auf einer kleinen Bank und ein paar Munitionskisten bequem gemacht, eine Baumkrone schützt sie vor den Drohnen, und jetzt machen sie eine Art Picknick mit Äpfeln und Schnaps aus einer Anderthalb-Liter-Colaflasche. „Selbst gebrannt“, sagt einer der Männer. In den Läden gibt es ja nichts mehr. Es herrscht Kriegsrecht, im ganzen Donbass ist Alkohol verboten, und so hat er sich aus Rohren und Blechen seine eigene Destille zusammengelötet.
Wir zeigen auf die schmutzigen Hände der Männer. „Was war denn da los?“ – „Das ist von den Drähten“, sagt einer und zeigt auf einen Strommast. Die Leitungen hängen runter. „Wir sammeln die Drähte auf. Kupfer, Aluminium, weißt du. Damit kann man Geld machen.“
Ein Wort gibt das andere, und irgendwann reihen sie sich vor uns auf, um sich vorzustellen, nicht mehr ganz trittsicher, aber mit Namen und Vatersnamen, wie es sich gehört: Jegor Anatoljewitsch mit grob geschätzt zehn verbliebenen Zähnen, Viktor Wladimirowitsch mit weißem Bart und Stock und Iwan Alexandrowitsch, ein sehr magerer Mann aus Murmansk in der russischen Arktis, der sich in der Hitze das Hemd ausgezogen hat. Seine Hand ist verletzt.
„Wie geht es euch?“
Jegor Anatoljewitsch macht eine heftige Geste, als wolle er an einer Tafel etwas durchstreichen. „Wie es uns geht?! Es gibt keinen Strom! Es gibt kein Wasser! Aber weißt du was? Es gibt wieder Gas. Wir haben die Leitung repariert. Mit einem Fahrradschlauch. Aber auch wurscht – es ist eh keiner mehr da außer uns.“
„Und was denkst du von Putin?“
Jegor Anatoljewitsch holt Luft, holt mit der Faust aus. „Putin?! – Pederas!!“ Das ist ein sehr ordinäres russisches Schimpfwort.
Wir schweigen, und Jegor Anatoljewitsch holt wieder Luft.
„Hast du mich nicht verstanden?! Wiederhole: Putin – Pederas!!“
„Putin – Pederas“, wiederhole ich leise.
Bravorufe, Gelächter. Jegors erhobener Arm lädt jetzt zum Faustgruß, ich schlage ein.
Unterdessen hat Iwan Alexandrowitsch, der Mann aus der Arktis, Zhenja in ein Gespräch verwickelt.
„Sie haben doch da Schrot im Gurt, oder?“
„Ja, Schrot“, sagt Zhenja.
„Könnten Sie dann bitte so nett sein, den Hund zu erschießen?“ Iwan Alexandrowitsch zeigt seine verletzte Hand. „Er hat mich gebissen.“
Zhenja lächelt sein Lächeln. „Ich erschieße keine Hunde.“
Später, unterwegs zum Markt, sagt er dann noch: „Ich habe einen Freund, der hat Hunde gegessen, als sie Mariupol belagert haben.“
Der Markt von Kostjantyniwka war früher ein wuseliges Durcheinander. Jetzt haben nach den Vormittags-KABs gerade noch ein halbes Dutzend Händler ihre Stände aufgeschlagen, sonst ist alles zugenagelt. Einer hat alte Schuhe, einer ein Bügeleisen und Teile von Schubkarren. Einer hat Eier, und eine Frau verkauft Käse aus Druschkiwka. Das liegt ein wenig weiter hinten, und man kann noch Kühe halten.
Der Mann mit den Eiern sagt, Kostjantyniwka sei gut: Es gibt keine Polizei hier vorne, und es gibt auch kein Rekrutierungszentrum. So kann ihn niemand auf der Straße anhalten und in die Armee stecken. In den Stadtteilen links der Gleise kommt allerdings auch keine Feuerwehr mehr, wenn die KABs einschlagen. Aber was soll man machen.
Die Frau mit dem Käse ist dick und lustig. Zwei Männer schauen sich gerade ihre Ware an, ein alter und ein etwas jüngerer, beide hochgewachsen und mit braunen Augen. Der Jüngere hält ein Fahrrad.
Die Käseverkäuferin sagt erst, dass sie nichts sagen will, aber dann kann sie doch nicht an sich halten.
„Habt ihr denn keine Angst?“
„Klar haben wir Angst“, sagen wir. „Aber du bist doch auch da mit deinem Käse und nicht in Druschkiwka, wo es sicherer ist.“
„Ja“, sagt die Frau. „Druschkiwka ist sicherer, aber auf diesem Markt bin ich die Einzige. Es gibt keine Konkurrenz, und so krieg ich mehr Geld für den Käse.“
„Und wie geht es den Leuten so?“
Die Frau will etwas sagen, aber sie kommt nicht dazu. Aus dem Mann mit dem Fahrrad bricht es plötzlich heraus wie aus einer Wasserleitung, die gerade von einer Drohne getroffen wurde. „Was fragt ihr da für Zeug!?“, schreit er. „Seht ihr nichts!?“ Er schwenkt den Arm wild in die Runde. „Sie geben uns keinen Strom! Sie decken uns mit Bomben ein! Sie bringen uns um! Wie Tiere!“
„Wer ist das: ,sie‘?“
Der Mann hält plötzlich inne. Vielleicht hat er unsere Kamera gesehen und vielleicht auch Zhenja, der unter einem Baum mit dem Schrotgewehr wartet.
„Du kannst selbst entscheiden, wer ,sie‘ sind“, sagt der Mann. Dann macht er auf dem Absatz kehrt, geht weg. Ohne Käse, aber mit dem Fahrrad.
Da schießt der Ältere hoch. Er rennt hinterher, fasst den Jüngeren am Ärmel, und aus ein paar Schritt Entfernung sehen wir sie gestikulieren. „Was redest du!?“, schreit der Ältere. „Dem Putin, dem muss man doch die Eier abschneiden! Hau ab mit deinem Blödsinn, ich erkenne dich nicht wieder!“ Er entreißt dem Jüngeren das Rad, tritt ins Pedal und ist weg.
Der Jüngere dreht sich zu uns, streckt uns die Hand entgegen wie zum Gruß. „Gratuliere!“, sagt er böse. „Ihr habt gewonnen! Wegen euch hab ich meinen Vater verloren! Wegen Typen wie euch glaubt der Alte diese ganzen Lügen über Putin!“ Dann ist auch der Jüngere weg.
Die Käseverkäuferin schaut ihm hinterher. „Warum habt ihr ihm nicht gesagt, er soll sich ficken?“
„Wir sagen niemandem, er soll sich ficken.“
„Was nehmt ihr denn für Pillen? Solche will ich auch.“